Die Uhr der Skythen (German Edition)
Türblatt so groß, ziemlich verstaubt, auf der Rückseite mit Verweisen auf eine große europäische Reise durch diverse Museen versehen, dazu vorne mit einem Messingschild, auf dem üblicherweise der Name des Künstlers und der Titel seines Gemäldes bezeichnet sind: David van Boskoop – Das Zeitwerk .
Auf den ersten Blick sieht es aus wie eines der im siebzehnten Jahrhundert üblichen Bilder mit den mehr oder weniger versteckten Anspielungen auf die Sterblichkeit des Menschen. Ein junger Mann mit langen, lockigen, roten Haaren und einem Blick, der zwischen Stolz und Verlegenheit zu schwanken scheint, wahrscheinlich der Maler selbst, sitzt an einem Tisch, auf dem die Versatzstücke der traditionellen Vanitas-Darstellung von der Eitelkeit, der Nichtigkeit und der Endlichkeit allen irdischen Daseins ausgebreitet sind: Bilder und kleine Skulpturen, die die Schönheit und die Bedeutung des menschlichen Geschlechts darstellen und über denen einige Seifenblasen schweben, goldene Münzen, eine soeben erloschene Kerze und rosa Nelken, die die Hoffnung auf das ewige Leben symbolisieren. Perlenketten, ein Stundenglas, das bald durchgelaufen sein wird und der obligatorische Totenschädel, der sich müde auf zwei Bücher bettet.
Erst mit dem zweiten Blick erkannte ich in der Mitte des Stilllebens den Gegenstand, dem das Gemälde vermutlich seinen Titel verdankt, und der mir im Augenblick des Erkennens einen rätselhaften Schreck einjagte: das, was der Maler dort vor dreihundertfünfzig Jahren auf dem Tisch zwischen einem umgestürzten Weinglas und einer Flöte hinterlassen hat, ist eine Uhr aus Holz und Metall, die der Betrachter zwar nur perspektisch von schräg oben sehen kann, aber es war mir sogleich klar: das ist die Uhr der Skythen, meine Zauberuhr, das Sparenbergsche Erbe, das zur Zeit auf dem Grund des Ditzumer Hafenbeckens ruht.
Wahrscheinlich, so dachte ich als erstes, bilde ich mir das nur ein, weil die Wahrnehmung stets und unbedingt bestätigt wissen will, was sie vorab gespeichert hat, so habe ich quasi als eine Übersprungshandlung, weil ich unsicher war, was ich davon halten und wie weiter verfahren soll, Boskoops Bild erst einmal an eine Wand des Turmzimmers gehängt, wo ich es jederzeit betrachten kann, nicht, um die Frage, ob es nun dieselbe Uhr ist oder nicht, letztgültig beantworten zu wollen, auch, weil mich der Ausdruck, mit dem der Maler sich der Nachwelt erhalten hat, fasziniert, weil ich noch immer nicht weiß, ist es eher soetwas wie eine blasierte Überheblichkeit, was aus seiner Miene spricht, oder nur seine juvenile Unsicherheit. Und zu guter Letzt hängt es jetzt da, weil es schlechterdings ein Vergnügen ist, ein so schönes und wertvolles Gemälde in seiner Nähe zu haben.
Es wird sich wohl auch in hundert Jahren nicht mit Sicherheit bestimmen lassen, ob diese Uhr auf dem Bild des David van Boskoop meine Zauberuhr ist, eine nahe Verwandte oder etwas völlig anderes, eventuell nur eine üppig verzierte Tabaksdose, aber es ist mir völlig gleichgültig, was es wirklich ist, mir bedeutet die Abbildung eine starke Erinnerung an die verlorene Uhr. Am liebsten würde ich das Gemälde aus dem Rahmen lösen, es in Pogum an die Wand hängen, um diskret an den grotesken Stillstand der Zeit erinnert zu werden, wenn sie längst wieder Sekunde um Sekunde fortschreitet, als wäre nichts gewesen, nichts geschehen.
Heute sehr unruhig geschlafen, bin mit Kopfschmerzen erwacht, habe sofort alle Fenster meines Turmzimmers aufgerissen, aber das nützt nicht viel, die Luft scheint auf der Stadt zu liegen wie eine muffige Bettdecke, und ich befürchte, ich ganz allein werde sie langsam aufbrauchen, atme stickige Hohlräume in die Atmosphäre, und es kommt mir nicht zum ersten Mal der Gedanke, mein Los wird die Rastlosigkeit sein, die einzig in der Lage ist, mich vor dem Ersticken und dem Wahnsinn zu bewahren.
Obschon ich schon einige Wochen hier bin, fällt es mir noch immer nicht leicht, mich in dem riesigen Gebäude zurechtzufinden. So entdecke ich beinahe jeden Tag einen neuen Raum, sei es eine belanglose Besenkammer, sei es wie gestern im Kellergeschoss nahe der Toiletten eine Art Sozialraum mit Blechschränken und Waschbecken. Und auf der Kante eines Tisches saß eine Frau im Unterrock, kämmte sich eben, eine Museumswärterin, ihre Uniform war über eine Stuhllehne gelegt. Vor Schreck wollte ich in einem ersten Impuls die Tür wieder schließen, wie ein Kind, das die Hände über die Augen schlägt,
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