Die Uhr der Skythen (German Edition)
mir schien. Ein korpulenter Mann liegt in immerwährendem Höhepunkt auf einer Frau mit verrutschter Perücke, die amüsiert und gelangweilt unter ihm hervorschaut, als tanzte sie mit einem Betrunkenen auf einer Dorfhochzeit vor vierhundert Jahren. Hätte dort den einen oder anderen Scherz für den Fall der wiederkehrenden Zeit arrangieren können, es war indes alles so fürchterlich fade und geschäftsmäßig, einzig erotisch das festgefrorene Lachen einer Frau, die mit einem Champagnerglas entspannt an eine Tür gelehnt dasteht und offensichtlich damit beschäftigt ist, zu begreifen, was just hinter ihr in ihrem Zimmer geschehen ist.
Aus der Mitte des Sündenpfuhls ragt wie ein spiritueller Fels in der sinnlichen Brandung die Oude Kerk und scheint eine stete Mahnung zu geben an die Endlichkeit der Wollust und den Tag des Jüngsten Gerichts, ist jedoch selbst ein seit längster Zeit säkularisiertes Gotteshaus, Markt und Tummelplatz für irdische Obliegenheiten und Bedürfnisse. Da ich diesen Ort indes betrete, verdoppelt sich die Stille, der nun auch der verrückte Zirkus da draußen unterworfen ist, ich trete an den Altar, und niemand von den Kulturbeflissenen, Geschäftstüchtigen und Bigotten wird mich stören, wenn ich ein Wort wechsele mit dem Schöpfer des Universums, des kosmischen Stillstandes und meiner armen Seele.
Mein Gott, so habe ich ihn gebeten, setze Deine wunderliche Weltenmaschine wieder in Gang, laß alles sein, wie es war und immer gewesen ist, errette mich aus dem Fegefeuer der Ereignislosigkeit und den Jakob Schwammheimer aus dem Ditzumer Hafenbecken. Es war aber alles andere als ein Dialog. Des Herren Allmacht blieb zur Salzsäule erstarrt wie seine Allwissenheit, er hat sich zur ewigen Ruhe gelegt und seinen Sohn Fokko van Steen vergessen.
Am Abend kam ich um kurz nach sechs zum Rijksmusuem. Es stellte sich heraus, daß es eine gigantische Baustelle ist, der Haupteingang mit Planen und Bauzäunen verhangen und verstellt, durch den Hintereingang kann man das Museum allerdings für eine Ausstellung betreten, welche die lange Zeit des Renovierens überbrücken soll: De Meesterwerken .
Was mir im ersten Augenblick als eine große Enttäuschung erschien, stellte sich letztlich als Glücksfall heraus. Das Museum ist eben geschlossen und geräumt, das Personal aber noch beschäftigt. An einem Seitenausgang verläßt jemand das Gebäude. Er hält mir nun, ohne davon zu wissen, mit einem höflichen Lächeln die Tür auf, bis ich mich wieder auf mein Fahrrad setze und irgendwohin davonfahren werde.
In dem Moment, da ich das Rijksmuseum das erste Mal betrat, habe ich mich, so kommt es mir vor, aus der einen Welt gestohlen, um vollkommen in dieser anderen zu versinken. Ich habe die Stadt Amsterdam seit dem Tag der Ankunft nicht mehr betreten, nicht mehr gesehen, lebe dennoch in ihrem Herzen, in ihrer Geschichte zwischen den alten Meistern und überlebe in dieser vergangenen Welt die Hungersnot, die da draußen herrscht, nähre mich von den Geschichten, die die Bilder erzählen, stille meinen Durst durch die zeitlose Schönheit und die sinnreichen Bedeutungen, die sie besitzen.
Nun bin ich bereits so lange hier, daß die Vorstellung von der Welt jenseits dieser dicken Mauern verblaßt ist, kann mich nur schwach noch an das Dorf am Kanal, das Bettenhaus und eine junge Frau erinnern, die wohl auch in diesem Moment noch auf einem Fahrrad balanciert. Alles, was dahinter liegt, die Fahrt dorthin an jenen Kanal, das Dorffest, eine unbestimmbare Zeit in Pogum, der Vater in einem Altenheim in Leer und die Vorstellung, daß ich einstmals in der Stadt Osnabrück gelebt haben soll, das alles kommt mir vor wie eine uralte, verwaschene Inschrift, deren Wortlaut und Bedeutung unter der Erosion von Jahrhunderten verschlossen wurde. Allein das Bild jener jungen Frau, von der ich sicher weiß, daß ihr Name Merreth ist, ist mir frisch wie am ersten Tag erhalten, weil ich es in dem Folianten über die Malerei des Goldenen Zeitalters bewahre: Joachim Beuckelaers Gemälde Fischmarkt , das ich an den Wänden des Rijksmuseums vergebens gesucht habe. Überhaupt ist mir das Buch ein spezieller Museumsführer, ich erlese mir die Geschichte der Niederlande vollkommen neu, finde viele Gemälde im Original und bewundere ihre einzigartige Kraft, das Visionäre, das die alten Meister vor vierhundert Jahren besaßen.
Mir scheint, sie sind diametral vom Zeitstillstand betroffen, haben in der Vergangenheit regungslos und
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