Die Uhr der Skythen (German Edition)
totenstill die Jahrhunderte überdauert, einbalsamierte Ahnen, die jetzt in das Leben zurückfinden, das ihnen immer innewohnte. Der Wind ist zu hören, der 1670 sacht durch die Baumkronen vor den prachtvollen Amsterdamer Giebeln streicht, als Jan van der Heyden die Haarlemmerschleuse abbildet. Der Zimt im Spekulatius auf Jan Steens Gemälde Das Nikolausfest ist auf den Lippen zu schmecken, und ich sehe, wie sich der Pulverdampf in der Flaute gemächlich von der Steuerbordseite der Fregatte in den klaren Himmel kräuselt, den Willem van de Velde II in dem Bild Der Kanonenschuss für die Ewigkeit festgehalten hat.
Das alles empfinden wir für gewöhnlich nicht, weil unsere Wahrnehmung unter dem Diktat des galoppierenden Fortgangs aller Ereignisse gezwungen wird, dem irrwitzigen Tempo zu folgen. Wir sehen, riechen, hören und fühlen zu schnell, und diese Rastlosigkeit läßt uns überhaupt nicht mehr wahrnehmen, was beispielsweise im meisterlichen Hochzeitsbild des Frans Hals nachzuempfinden ist, welches er im Jahre 1622 von Isaac Massa und Beatrix van der Laen gemalt hat: souveräne Gelassenheit, das strahlende Glück der Vermählten, das so jung ist, als wäre der glückliche Tag eben heute. Zwischen meinen Fingern spüre ich den samtweich fließenden Stoff ihrer Kleider, in meinen Ohren verklingen die letzten lachenden Worte, die sie gewechselt haben, eher der Maler sie zu dieser glücklichen Stille ermahnt hat.
Die Zeit ist nichts.
Gestern war ich am Meer. Hatte plötzlich Lust, meine Klausur zu verlassen, das Tagewerk beiseite zu legen. Unter dem Dach eines der Ecktürme des Museums gibt es ein Büro mit einer Bettstatt, die man aus einem Schrank klappen kann. Dort schlafe ich des Nachts und träume irrsinniges Zeugs von einer blonden Frau. Wenn ich erwache, öffne ich zuerst das Fenster und begrüße die Morgensonne, die just über die Häuserzeile jenseits des großen Platzes kriecht, auf dem schon zahlreiche Menschen geschäftig unterwegs sind. Zunächst flaniere ich für gewöhnlich durch das Museum wie durch einen vertrauten Park, treffe in den Bildern hier und da alte Bekannte, begrüße sie im Vorübergehen, bleibe gelegentlich für länger bei einem befreundeten Menschen stehen, um ein paar Worte zu wechseln zu den Fragen der Kunst und der Zeitläufte, oder ich schaue in eine italienische Landschaft, in der sich für mein Auge stets irgendein allegorisches Ereignis abspielt. Einzigartig ist die grenzenlose Freiheit, die ich hier besitze, gehe in der Cafeteria frühstücken, wann es mir gefällt, wühle mich in den Katakomben durch das Magazin des Museums oder suche mir einen ruhigen Platz in einem der Treppenhäuser oder in dem kleinen Barockgarten an der Nordwestecke des Hauses, blättere und lese in meinem alten Kompendium oder in sonst einem Buch über das Goldene Zeitalter, das sich im Museumsladen findet. Bisweilen sitze ich wie jetzt an dem Schreibtisch in meinem Turmzimmer, habe ihn behutsam aufgeräumt, damals, als ich kam, schreibe auf, was mir in den Kopf kommt, und es spielt überhaupt keine Rolle, ob es jemals jemand lesen wird.
Gestern also war ich am Meer. Bin auf einer Art Autobahn direkt nach Westen gefahren, durch das schöne Städtchen Haarlem, einen schattigen Waldgürtel und über die Dünen bis Bloemendaal aan Zee. Die Sonne stand über dem Horizont, kein Lüftchen regte sich, und wahrscheinlich deswegen fehlte der vertraute Duft nach faulendem Tang und salziger Luft. Die See ein eingedickter Pudding, der sich löst, wenn ich barfuß ein paar Schritte in der seichten Brandung versuche, aber es kommt mir das alles künstlich vor, als wäre es ausschließlich für mich allein vorgetäuscht, das Wasser ausgesprochen träge und absolut still. Wenn sich die Erde je wieder drehen sollte, habe ich gedacht, wenn die Wellen ihren Rhythmus wiederfinden, die Brandung ihre millionen Jahre währende Symphonie wieder aufnimmt, will ich mit einem Schiff über den Atlantik fahren, und Merreth soll an meiner Seite sein. Bin nach etwa einer halben Stunde auf mein Rad gestiegen und war am Abend im Museum zurück.
Vorgestern fand ich bei einer meiner Exkursionen im Magazin einen handgeschriebenen Katalog, ergänzt durch Karten, die mit einer alten Schreibmaschine beschriftet waren. In einem Schlagwort-Register gab es Anhaltspunkte zum Thema »Zeit«, denen ich nachging, und tatsächlich entdeckte ich zuletzt in einem Kellerregal ein interessantes Gemälde, nicht eben klein, etwa wie ein halbes
Weitere Kostenlose Bücher