Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unendliche Geschichte

Die unendliche Geschichte

Titel: Die unendliche Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
Vom Netzwerk:
traurig, »aber ich habe Al’Tsahir zu etwas anderem gebraucht.« »Schlimm«, wiederholte Yor mit steinernem Gesicht.
    »Was rätst du mir?« wollte Bastian wissen.
    Der Bergmann schwieg wieder lange, ehe er erwiderte:
    »Dann mußt du eben im Dunkeln arbeiten.«
    Bastian überlief ein Schauder. Zwar hatte er noch immer alle Kraft und Furchtlosigkeit, die ihm AURYN verliehen hatte, doch bei der Vorstellung, so tief, tief dort unten im Inneren der Erde in völliger Finsternis zu liegen, wurde das Mark seiner Knochen zu Eis. Er sagte nichts mehr, und beide legten sich schlafen.
    Am nächsten Morgen rüttelte ihn der Bergmann an der Schulter.Bastian richtete sich auf. »Iß deine Suppe und komm!« befahl Yor kurz angebunden.
    Bastian tat es.
    Er folgte dem Bergmann zu dem Schacht, bestieg mit ihm zusammen den Förderkorb, und dann fuhr er in die Grube Minroud ein. Tiefer und tiefer ging es hinunter. Längst war der letzte spärliche Lichtschein, der durch die Öffnung des Schachtes drang, geschwunden, und noch immer sank der Korb in der Finsternis abwärts. Dann endlich zeigte ein Ruck, daß sie auf dem Grunde angelangt waren. Sie stiegen aus.
    Hier unten war es sehr viel wärmer als oben auf der winterlichen Ebene, und schon nach kurzem begann Bastian der Schweiß am ganzen Körper auszubrechen, während er sich bemühte, den Bergmann, der rasch vor ihm herging, nicht im Dunkeln zu verlieren. Es war ein verschlungener Weg durch zahllose Stollen, Gänge und bisweilen auch Hallen, wie aus einem leisen Echo ihrer Schritte zu erraten war. Bastian stieß sich mehrmals sehr schmerzhaft an Vorsprüngen und Stützbalken, doch Yor nahm keine Notiz davon.
    An diesem ersten Tag und auch noch an einigen folgenden unterwies der Bergmann ihn schweigend, nur indem er Bastians Hände führte, in der Kunst, die feinen, hauchzarten Marienglasschichten voneinander zu trennen und behutsam abzuheben. Es gab dazu Werkzeuge, die sich wie hölzerne oder hörnerne Spachtel anfühlten, zu Gesicht bekam er sie niemals, denn sie blieben an der Arbeitsstelle liegen, wenn das Tagewerk getan war. Nach und nach erlernte er, sich dort unten in der völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er erkannte die Gänge und Stollen mit einem neuen Sinn, den er nicht hätte erklären können. Und eines Tages wies Yor ihn-wortlos, nur durch Berührung mit seinen Händen an, von nun an allein in einem niedrigen Stollen zu arbeiten, in den man nur kriechend eindringen konnte. Bastian gehorchte. Es war sehr eng vor Ort, und über ihm lag die Bergeslast des Urgesteins. Eingerollt wie ein ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter lag er in den dunklen Tiefen der Grundfesten Phantásiens und schürfte geduldig nach einem vergessenen Traum, einem Bild, das ihn zum Wasser des Lebens führen konnte.
    Da er nichts sehen konnte in der ewigen Nacht des Erdinneren,
    konnte er auch keine Auswahl und keine Entscheidung treffen. Er mußte darauf hoffen, daß der Zufall oder ein barmherziges Schicksal ihn irgendwann den rechten Fund machen lassen würde. Abend für Abend brachte er nach oben ans verlöschende Tageslicht, was er in den Tiefen der Grube Minroud abzulösen vermocht hatte. Und Abend für Abend war seine Arbeit umsonst gewesen. Doch Bastian klagte nicht und empörte sich nicht. Er hatte alles Mitleid mit sich selbst verloren. Er war geduldig und still geworden. Obwohl seine Kräfte unerschöpflich waren, fühlte er sich oft sehr müde.
    Wie lange diese harte Zeit dauerte, läßt sich nicht sagen, denn solche Arbeit läßt sich nicht nach Tagen oder Monaten bemessen. Jedenfalls geschah es eines Abends, daß er ein Bild mitbrachte, das ihn auf der Stelle so sehr aufwühlte, daß er sich zurückhalten mußte, keinen Uberraschungslaut auszustoßen und damit alles zu zerstören.
    Auf der zarten Marienglastafel - sie war nicht sehr groß, hatte nur etwa das Format einer gewöhnlichen Buchseite - war sehr klar und deutlich ein Mann zu sehen, der einen weißen Kittel trug. In der einen Hand hielt er ein Gipsgebiß. Er stand da, und seine Haltung und der stille, bekümmerte Ausdruck in seinem Gesicht griffen Bastian ans Herz. Aber das, was ihn am meisten betroffen machte, war, daß der Mann in einen glasklaren Eisblock eingefroren war. Ganz und gar und von allen Seiten umgab ihn eine undurchdringliche, aber vollkommen durchsichtige Eisschicht.
    Während Bastian das Bild betrachtete, das vor ihm im Schnee lag, erwachte in ihm Sehnsucht nach diesem Mann; den er nicht kannte. Es war

Weitere Kostenlose Bücher