Die unendliche Geschichte
Purzelbäume und Kopfstände.
»Leise! Seid bitte leise!« flüsterte der Junge ohne Namen verzweifelt. Der ganze Chor schrie begeistert:
»Was hat er gesagt?« - »Er hat gesagt, wir sind zu leise!« - »Das hat uns noch niemand gesagt!«»Was wollt ihr von mir?« fragte der Junge, »warum laßt ihr mich nicht in Ruhe?« Alle wirbelten um ihn herum und schnatterten:
»Großer Wohltäter! Großer Wohltäter! Weißt du noch, wie du uns erlöst hast, als wir noch die Arachai waren? Damals waren wir die unglücklichsten Wesen in ganz Phantasien, aber jetzt hängen wir uns selbst zum Hals heraus. Was du da aus uns gemacht hast, war anfangs ganz lustig, aber jetzt langweilen wir uns zu Tode. Wir flattern so herum und haben nichts, woran wir uns halten können. Wir können nicht einmal ein richtiges Spiel spielen, weil wir keine Regel haben. Lächerliche Hanswurste hast du aus uns gemacht mit deiner Erlösung! Du hast uns betrogen, großer Wohltäter!«
»Ich hab’ es doch gut gemeint«, flüsterte der Junge entsetzt.
»Jawohl, mit dir selbst!« schrien die Schlamuffen im Chor, »du bist dir ganz großartig vorgekommen. Aber wir haben die Zeche bezahlt für deine Güte, großer Wohltäter!« »Was soll ich denn tun?« fragte der Junge. »Was wollt ihr von mir?«
»Wir haben dich gesucht«, kreischten die Schlamuffen mit verzerrten Clownsgesichtern, »wir wollten dich einholen, ehe du dich aus dem Staub machen kannst. Und jetzt haben wir dich eingeholt. Und wir werden dich nicht mehr in Ruhe lassen, ehe du nicht unser Häuptling geworden bist. Du mußt unser Ober-Schlamuffe werden, unser Haupt-Schlamuffe, unser General-Schlamuffe! Alles, was du willst!«
»Aber warum denn, warum?« flüsterte der Junge flehend.
Und der Chor der Clowns kreischte zurück:
»Wir wollen, daß du uns Befehle gibst, daß du uns herumkommandierst, daß du uns zu irgend etwas zwingst, daß du uns irgend etwas verbietest! Wir wollen, daß unser Dasein zu irgend etwas da ist!«
»Das kann ich nicht! Warum wählt ihr nicht einen von euch?«
»Nein, nein, dich wollen wir, großer Wohltäter! Du hast doch aus uns gemacht, was wir jetzt sind!«
»Nein!« keuchte der Junge, »ich muß fort von hier. Ich muß zurückkehren!« »Nicht so schnell, großer Wohltäter!« schrien die Clownsmünder, »du entkommst uns nicht. Das könnte dir so passen - dich einfach aus Phantasien verdrücken!«
»Aber ich bin am Ende!« beteuerte der Junge.
»Und wir?« antwortete der Chor, »was sind wir?«
»Geht weg!« rief der Junge, »ich kann mich nicht mehr um euch kümmern!« »Dann mußt du uns zurückverwandeln!« erwiderten die schrillen Stimmen, »dann wollen wir lieber wieder Arachai werden. Der Tränensee ist ausgetrocknet, und Amargánth sitzt auf dem Trockenen. Und niemand spinnt mehr das feine Silberfiligran. Wir wollen wieder Arachai sein.«
»Ich kann’s nicht mehr!« antwortete der Junge. »Ich habe keine Macht mehr in Phantasien.« »Dann«, brüllte der ganze Schwärm und wirbelte durcheinander, »nehmen wir dich mit uns!« Hunderte von kleinen Händen packten ihn und versuchten ihn in die Höhe zu reißen. Der Junge wehrte sich aus Leibeskräften, und die Motten flogen nach allen Seiten. Aber hartnäckig wie gereizte Wespen kehrten sie immer wieder zurück.
Mitten in dieses Gezeter und Gekreische hinein ließ sich plötzlich von fernher ein leiser und doch mächtiger Klang vernehmen, der wie das Dröhnen einer großen Bronzeglocke tönte. Und im Handumdrehen ergriffen die Schlamuffen die Flucht und verschwanden als dunkler Schwärm am Himmel.
Der Junge, der keinen Namen mehr hatte, kniete im Schnee. Vor ihm lag, zu Staub zerfallen, das Bild. Nun war alles verloren. Es gab nichts mehr, was ihn den Weg zum Wasser des Lebens führen konnte.
Als er aufblickte, sah er durch seine Tränen undeutlich in einiger Entfernung zwei Gestalten auf dem Schneefeld vor sich, eine große und eine kleine. Er wischte sich die Augen und sah noch einmal hin.
Es waren Fuchur, der weiße Glücksdrache, und Atréju.
Zögernd stand der Junge, der keinen Namen mehr hatte, auf und ging ein paar Schritte auf Atréju zu. Dann blieb er stehen. Atréju tat nichts, er blickte ihm nur aufmerksam und ruhig entgegen. Die Wunde auf seiner Brust blutete nicht mehr.
Lange standen sie sich gegenüber, und keiner von beiden sagte ein Wort. Es war so still, daß jeder die Atemzüge des anderen hörte.
Langsam griff der Junge ohne Namen nach der goldenen Kette, die um
Weitere Kostenlose Bücher