Die unendliche Geschichte
Fuchur?« fragte Atréju, »wie geht es ihm?«
»Wer ist das?«
»Der weiße Glücksdrache.«
»Ach so. Weiß noch nicht. Hat ein bißchen mehr abbekommen als du. Hält allerdings auch ein bißchen mehr aus. Müßte es eigentlich schaffen. Bin ziemlich sicher, daß er sich wieder erholt. Braucht noch einige Zeit Ruhe. Wo habt ihr bloß dieses Gift abgekriegt, he? Und wo kommt ihr so plötzlich her? Und wo wollt ihr hin? Und wer seid ihr?«
Engywuck war nun auch in den Höhleneingang getreten und hörte zu, wie Atréju auf die Fragen der alten Urgl Antwort gab. Dann trat er vor und rief:
»Halt den Mund, Weib, jetzt bin ich dran!«
Dann wandte er sich an Atréju, nahm den pfeifenkopfartigen Hut ab, kratzte sich sein kahles Köpfchen und sagte:
»Nimm ihr ihren Ton nicht übel, Atréju. Die alte Urgl ist oft ein bißchen ruppig, meint’s aber nicht so. Mein Name ist Engywuck. Man nennt uns auch die Zweisiedler. Schon von uns gehört?«
»Nein«, gab Atréju zu.
Engywuck schien ein wenig beleidigt.
»Na gut«, meinte er, »du verkehrst wohl nicht in wissenschaftlichen Kreisen, sonst hätte man dir bestimmt gesagt, daß du keinen besseren Ratgeber als mich finden kannst, wenn du zur Uyulála ins Südliche Orakel willst. Bist an die richtige Adresse gekommen, mein Junge.«»Tu nur nicht so!« rief die alte Urgl dazwischen. Dann kletterte sie von ihrem Sitzplatz herunter und verschwand vor sich hinbrummend in der Höhle.
Engywuck überhörte geflissentlich ihren Einwurf.
»Kann dir alles erklären«, fuhr er fort, »habe die Sache in-und auswendig studiert mein Leben lang. Habe dafür eigens mein Observatorium eingerichtet. Werde demnächst ein großes wissenschaftliches Werk über das Orakel herausgeben. Titel: Das Uyulála-Rätsel, gelöst durch Professor Engywuck. Hört sich nicht schlecht an, wie? Leider fehlen mir aber noch ein paar Kleinigkeiten. Könntest mir dabei helfen, mein Junge.«
»Ein Observatorium?« fragte Atréju, dem das Wort unbekannt war.
Engywuck nickte mit vor Stolz funkelnden Äuglein. Mit einer Handbewegung forderte er Atréju auf, ihm zu folgen.
Zwischen den mächtigen Steinplatten lief ein kleiner, vielfach gewundener Pfad immer aufwärts. An manchen Stellen, wo es besonders steil hinaufging, waren winzige Stufen ausgeschlagen, die für Atréjus Füße natürlich zu klein waren. Er überstieg sie einfach mit einem großen Schritt. Dennoch hatte er alle Mühe, dem Gnom, der hurtig vor ihm her trippelte, nachzukommen.
»Eine helle Mondnacht heute«, hörte er Engywuck sagen, »wirst sie sehen können.« »Wen?« wollte Atréju wissen, »die Uyulála?«
Aber Engywuck winkte unwillig ab und wackelte weiter.
Endlich waren sie auf dem Gipfel des Felsenturms angekommen. Der Boden war flach, nur nach einer Seite hin erhob sich eine Art natürlicher Brustwehr, ein Geländer aus einer Steintafel. In der Mitte dieser Tafel war ein Loch, offensichtlich mit Werkzeugen herausgeschnitten. Vor dem Loch stand ein kleines Fernrohr auf einem Stativ aus Wurzelholz. Engywuck guckte hindurch, regulierte es leicht durch Drehen an einigen Schrauben, dann nickte er zufrieden und forderte Atréju auf, seinerseits einen Blick zu tun. Dieser folgte der Anweisung, mußte sich aber auf den Boden niederlassen und auf die Ellbogen gestützt durch das Rohr schauen.
Es war auf das große Felsentor gerichtet, und zwar so, daß man den unteren Teil des rechten Pfeilers im Bild hatte. Und nun sah Atréju, daß
neben diesem Pfeiler hochaufgerichtet und völlig reglos im Mondlicht eine mächtige Sphinx saß. Die Vorderpranken, auf die sie sich stützte, waren die eines Löwen, der hintere Teil ihres Leibes war der eines Stiers, auf dem Rücken trug sie gewaltige Adlerschwingen, und ihr Gesicht war das eines Menschen - jedenfalls der Form nach, denn der Ausdruck war nicht menschlich. Es war schwer zu entscheiden, ob dieses Gesicht lächelte oder unermeßliche Trauer widerspiegelte oder auch völlige Gleichgültigkeit. Nachdem Atréju es eine Weile betrachtet hatte, schien es ihm allerdings von abgrundtiefer Bosheit und Grausamkeit erfüllt, doch gleich mußte er seinen Eindruck wieder berichtigen und fand nichts mehr als reine Heiterkeit darin.
»Laß gut sein!« hörte er die Stimme des Gnomen an seinem Ohr, »du wirst es nicht herausbekommen. Geht jedem so. Mir auch. Hab’s mein Leben lang beobachtet und bin nicht dahintergekommen. Jetzt die andere!«
Und er drehte an einer der Schrauben, das Bild wanderte an
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