Die unendliche Geschichte
Ruhe sterben!«
Atréju rührte sich nicht. Ebenso leise antwortete er:
»Ich habe deinen Ruf gehört, darum bin ich gekommen.«
Der Kopf des Werwolf s sank zurück.
»Ich habe niemand gerufen«, knurrte er, »es war meine eigene Totenklage.« »Wer bist du?« fragte Atréju und trat noch einen Schritt näher.
»Ich bin Gmork, der Werwolf.«
»Warum liegst du hier angekettet?«
»Sie haben mich vergessen, als sie fortgingen.«
»Wer - sie?«
»Die, die mich an diese Kette gelegt haben.«
»Und wo sind sie hingegangen?«
Gmork antwortete nicht. Er sah Atréju aus halbgeschlossenen Augen lauernd an. Nach einer längeren Stille fragte er: »Du gehörst nicht hierher, kleiner Fremdling, nicht in diese Stadt, nicht in dieses Land. Was suchst du hier?«
Atréju senkte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Wie heißt diese Stadt?«
»Es ist die Hauptstadt des berühmtesten Landes in ganz Phantasien«, sagte Gmork. »Von keinem anderen Land und keiner anderen Stadt gibt es so viele Geschichten. Auch du hast gewiß schon von Spukstadt im Gelichterland gehört, nicht wahr?«
Atréju nickte langsam.
Gmork hatte den Jungen nicht aus dem Auge gelassen. Es wunderte ihn, daß dieser grünhäutige Knabe ihn so ruhig aus seinen großen schwarzen Augen ansah und keinerlei Furcht zeigte.
»Und du - wer bist du?« fragte er.
Atréju überlegte eine Weile, ehe er antwortete:
»Ich bin niemand.«
»Was soll das heißen?«
»Es soll heißen, daß ich einmal einen Namen hatte. Er soll nicht mehr genannt werden. Darum bin ich niemand.«
Der Werwolf zog ein wenig die Lefzen hoch und ließ sein schauerliches Gebiß sehen, was wohl ein Lächeln andeuten sollte. Er verstand sich auf Seelenfinsternisse aller Art und fühlte, daß er hier auf irgendeine Weise einen ebenbürtigen Partner vor sich hatte. »Wenn das so ist«, sagte er mit heiserer Stimme, »dann hat Niemand mich gehört, und Niemand ist zu mir gekommen, und Niemand redet mit mir in meiner letzten Stunde.« Wieder nickte Atréju. Dann fragte er: »Kann Niemand dich von der Kette losmachen?«
Das grüne Licht in den Augen des Werwolf s flackerte. Er begann zu hecheln und sich die Lefzen zu lecken.
»Du würdest das wirklich tun?« stieß er hervor, »du würdest einen hungrigen Werwolf freilassen? Weißt du nicht, was das heißt? Niemand wäre vor mir sicher!«
»Ja«, sagte Atréju, »und ich bin Niemand. Warum sollte ich mich vor dir fürchten?« Er wollte sich Gmork nähern, doch der ließ abermals jenes tiefe, schreckliche Grollen hören. Der Junge wich zurück.
»Willst du nicht, daß ich dich befreie?« fragte er.
Der Werwolf schien auf einmal sehr müde.
»Das kannst du nicht. Aber wenn du in meine Reichweite kommst, muß ich dich in Stücke reißen, Söhnchen. Das würde mein Ende nur ein wenig hinausschieben, um ein oder zwei Stunden. Also bleib mir vom Leib und laß mich in Ruhe krepieren.«
Atréju überlegte.
»Vielleicht«, meinte er schließlich, »finde ich etwas zu fressen für dich. Ich könnte suchen gehen in der Stadt.«
Gmork schlug langsam wieder die Augen auf und sah den Jungen an. Das grüne Feuer in seinem Blick war erloschen.
»Geh zur Hölle, du kleiner Narr! Willst du mich am Leben halten, bis das Nichts hier ist?«»Ich dachte«, stammelte Atréju, »wenn ich dir Futter gebracht hätte und du satt wärst, dann könnte ich mich dir vielleicht nähern, um dir die Kette abzunehmen… « Gmork knirschte mit den Zähnen.
»Wenn es eine gewöhnliche Kette wäre, die mich hier festhält, glaubst du, ich hätte sie nicht schon längst selbst zerbissen?«
Wie zum Beweis schnappte er nach der Kette, und sein fürchterliches Gebiß schlug krachend zusammen. Er zerrte an ihr, dann ließ er sie los.
»Es ist eine magische Kette. Nur die gleiche Person kann sie lösen, die sie mir angelegt hat. Aber die kehrt nie mehr zurück.«
»Und wer hat sie dir angelegt?«
Gmork begann zu winseln wie ein geprügelter Hund. Erst nach einer Weile hatte er sich so weit beruhigt, daß er antworten konnte: »Gaya war’s, die Finstere Fürstin.«
»Und wo ist sie hingegangen?«
»Sie hat sich ins Nichts gestürzt - wie alle anderen hier.«
Atréju dachte an die wahnsinnigen Tänzer, die er draußen vor der Stadt im Nebel beobachtet hatte.
»Warum?« murmelte er, »warum sind sie nicht geflohen?«
»Sie hatten keine Hoffnung mehr. Das macht euereins schwach. Das Nichts zieht euch mächtig an, und keines von euch wird ihm mehr lang
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