Die unendliche Geschichte
das Nichts zu und stürzten, rollten und sprangen hinein.
Kaum war der letzte dieser gespenstischen Schar lautlos und ohne Spur verschwunden, als Atréju mit Schrecken bemerkte, wie auch sein eigener Körper anfing, sich mit kleinen ruckartigen Schritten auf das Nichts zuzubewegen. Ein übermächtiges Verlangen, sich ebenfalls hineinzustürzen, wollte von ihm Besitz ergreifen. Atréju spannte all seinen Willen an und wehrte sich dagegen. Er zwang sich, stehenzubleiben. Langsam, ganz langsam gelang es ihm, sich umzudrehen und sich Schritt für Schritt wie gegen eine unsichtbare mächtige Wasserströmung voranzukämpfen. Der Sog wurde schwächer und Atréju rannte, rannte so schnell er konnte auf dem buckligen Straßenpflaster zurück. Er rutschte aus, stürzte hin, raffte sich auf und rannte weiter, ohne zu überlegen, wohin diese Straße im Nebel ihn führen würde.Laufend folgte er ihren sinnlosen Krümmungen und hielt erst inné, als aus dem Nebel vor ihm eine hohe, pechschwarze Stadtmauer auftauchte. Dahinter ragten einige schiefe Türme in den grauen Himmel. Die dicken, hölzernen Flügel des Stadttores waren morsch und verfault und hingen schräg in den verrosteten Angeln.
Atréju ging hinein.
Es wurde immer kälter auf dem Speicher. Bastian begann so zu frieren, daß er zitterte. Und wenn er nun krank würde - was würde dann aus ihm werden? Er konnte zum Beispiel Lungenentzündung bekommen wie Willi, der Junge aus seiner Klasse. Dann würde er hier ganz allein auf dem Speicher sterben müssen. Niemand wäre da, um ihm beizustehen. Er wäre jetzt sehr froh gewesen, wenn der Vater ihn finden und retten würde. Aber heimgehen - nein, er konnte es nicht. Lieber sterben !
Er holte sich noch die restlichen Militärdecken und mummelte sich von allen Seiten darin ein. Langsam wurde ihm wärmer.
Irgendwo über den brausenden Wogen des Meeres hallte Fuchurs Stimme, mächtig wie der Klang einer Bronzeglocke.
»Atréju! Wo bist du? Atréju!«
Längst hatten die Windriesen ihr Kampfspiel beendet und waren auseinander gestürmt. Sie würden sich von neuem treffen, an dieser oder einer anderen Stelle, um ihren Streit abermals auszutragen, wie sie es seit undenklichen Zeiten getan hatten. Was eben erst geschehen war, hatten sie schon vergessen, denn sie behielten nichts und wußten nichts außer ihrer eigenen unbändigen Kraft. Und so war auch längst schon der weiße Drache und sein kleiner Reiter aus ihrer Erinnerung geschwunden.
Als Atréju in die Tiefe gestürzt war, hatte Fuchur zunächst mit allen Kräften versucht, sich ihm nachzuschnellen, um ihn im Fallen noch aufzufangen. Doch ein Wirbelsturm hatte den Drachen in die Höhe gerissen und weit, weit fortgetragen. Als er zurückkehrte, tobten die Windriesen schon über einer anderen Stelle des Meeres dahin. Fuchur bemühte sich verzweifelt, den Ort wiederzufinden, wo Atréju ins Wasser gefallen sein mußte, aber selbst für einen weißen Glücksdrachen ist es ein Ding der Unmöglichkeit, im kochenden Schaum eines aufgewühlten Meeres das winzige Pünktchen eines dahintreibenden Körpers zu entdecken - oder gar einen Ertrunkenen auf dem Grund.
Dennoch wollte Fuchur nicht aufgeben. Er stieg hoch in die Lüfte, um einen besseren Überblick zu haben, dann wieder flog er dicht über den Wogen hin, oder er zog Kreise, immer weitere und weitere Kreise. Dabei hörte er nicht auf nach Atréju zu rufen, in der Hoffnung, ihn doch noch irgendwo im Gischt zu erspähen.
Er war ein Glücksdrache, und nichts konnte seine Überzeugung erschüttern, daß doch noch alles gut enden werde. Was auch immer geschah, Fuchur würde niemals aufgeben. »Atréju!« dröhnte seine mächtige Stimme durch das Tosen der Wellen, »Atréju, wo bist du?« Atréju wanderte durch die totenstillen Straßen einer verlassenen Stadt. Der Anblick war bedrückend und unheimlich. Kein Gebäude schien es hier zu geben, das nicht schon von seinem Äußeren her einen drohenden und fluchbeladenen Eindruck machte, so als bestünde die ganze Stadt nur aus Geisterschlössern und Spukhäusern. Über den Straßen und Gas-sen, die ebenso krumm und schief waren wie alles in diesem Land, hingen ungeheure Spinnweben, und ein übler Geruch stieg aus Kellerlöchern und leeren Brunnen.
Nachdem Atréju anfangs von Mauerecke zu Mauerecke gehuscht war, um nicht entdeckt zu werden, gab er sich bald keine Mühe mehr, sich zu verbergen. Leer lagen die Plätze und Straßen vor ihm, und auch in den Gebäuden regte sich
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