Die unendliche Geschichte
nichts. Er ging in einige hinein, doch fand er nur umgeworfene Möbel, zerfetzte Vorhänge, zerbrochenes Geschirr und Glas - alle Zeichen der Verwüstung, aber keinen Bewohner. Auf einem Tisch stand noch ein halbaufgegessenes Mahl, einige Teller mit einer schwarzen Suppe darin und ein paar klebrige Brocken, die vielleicht Brot waren. Er aß von beidem. Es schmeckte widerwärtig, aber er hatte großen Hunger. In gewissem Sinne schien es ihm ganz richtig, daß er gerade hierher geraten war. Das alles paßte zu einem, dem keine Hoffnung mehr blieb.
Bastian fühlte sich ganz schwach vor Hunger.
Weiß der Himmel, warum ihm gerade jetzt ganz unpassenderweise der Apfelstrudel von Fräulein Anna einfiel. Es war der beste Apfelstrudel der Welt.
Fräulein Anna kam dreimal in der Woche, erledigte Schreibarbeiten für den Vater und brachte den Haushalt in Ordnung. Meistens kochte oder backte sie auch etwas. Sie war eine stämmige Person, die unbekümmert laut redete und lachte. Der Vater war höflich zu ihr, aber im übrigen schien er sie kaum wahrzunehmen. Sehr selten brachte sie es fertig, daß über sein bekümmertes Gesicht ein Lächeln huschte. Wenn sie da war, wurde es ein bißchen heller in der Wohnung.
Fräulein Anna hatte eine kleine Tochter, obwohl sie nicht verheiratet war. Das Mädchen hieß Christa, war drei Jahre jünger als Bastian und hatte wunderschöne blonde Haare. Früher hatte Fräulein Anna ihr Töchterchen fast immer mitgebracht. Christa war sehr schüchtern. Wenn Bastian ihr stundenlang seine Geschichten erzählt hatte, war sie ganz still dagesessen und hatte ihm mit großen Augen zugehört. Sie bewunderte Bastian, und er mochte sie sehr gern. Aber vor einem Jahr hatte Fräulein Anna ihr Töchterchen in ein Landschulheim gegeben. Und nun sahen sie sich fast nie mehr.
Bastian hatte es Fräulein Anna ziemlich übelgenommen und alle ihre Erklärungen, warum es so besser für Christa wäre, hatten ihn nicht überzeugt.
Aber ihrem Apfelstrudel konnte er trotzdem niemals widerstehen.
Er fragte sich sorgenvoll, wie lang ein Mensch es überhaupt aushaken konnte, ohne zu essen. Drei Tage? Zwei? Vielleicht bekam man schon nach vierundzwanzig Stunden Wahnvorstellungen? Bastian rechnete an den Fingern nach, wie lang er nun schon hier war. Es waren schon zehn Stunden oder sogar etwas mehr. Wenn er nur sein Pausebrot oder wenigstens den Apfel noch aufgehoben hätte!
Im flackernden Kerzenschein sahen die gläsernen Augen des Fuchses, der Eule und des riesigen Steinadlers fast lebendig aus. Ihre Schatten regten sich groß an der Speicherwand. Die Turmuhr schlug sieben Mal.
Atrèju ging wieder auf die Straße hinaus und wanderte ziellos in der Stadt umher. Sie schien sehr groß. Er kam-durch Viertel, in denen alle Häuser klein und niedrig waren, so daß er im Stehen die Dachtraufe berühren konnte, und durch andere, in denen vielstöckige Paläste standen mit figurengeschmückten Fassaden. Doch alle diese Figuren stellten Totengerippe oder Dämonengestalten dar, die mit fratzenhaften Gesichtern auf den einsamen Wanderer hinunterstarrten.
Und dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen.
Irgendwo ganz in der Nähe erklang ein rauhes, heiseres Heulen, das so verzweifelt, so trostlos klang, daß es Atréju das Herz zerschnitt. Alle Verlassenheit, alle Verdammnis der Geschöpfe der Finsternis lag in diesem Klagelaut, der nicht enden wollte und von den Wänden immer fernerer Gebäude als Echo zurückgeworfen wurde, bis er schließlich klang wie das Geheul eines weit verstreuten Rudels riesiger Wölfe.
Atréju ging dem Ton nach, der immer leiser und leiser wurde und zuletzt in einem rauhen Schluchzen erstarb. Aber er mußte einige Zeit suchen. Er ging durch eine Einfahrt, kam in einen engen, lichtlosen Hof, ging durch einen Torbogen und gelangte zuletzt in einen Hinterhof, der feucht und schmutzig war. Und dort lag vor einem Mauerloch angekettet ein riesiger, halb verhungerter Werwolf. Die Rippen unter seinem räudigen Fell waren einzeln zu zählen, die Wirbel seines Rückgrats standen hervor wie die Zähne einer Säge, und die Zunge hing ihm lang aus dem halbgeöffneten Rachen.
Atréju näherte sich ihm leise. Als der Werwolf ihn bemerkte, hob er mit einem Ruck den mächtigen Kopf. In seinen Augen glomm ein grünes Licht auf.
Eine Weile musterten sich die beiden gegenseitig, ohne ein Wort, ohne einen Laut. Endlich ließ der Werwolf ein leises, überaus gefährliches Grollen hören: »Geh fort! Laß mich in
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