Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
jedes Dokument). Viele ihrer Aufnahmen erschienen in verschiedenen ausländischen Zeitungen: darauf sah man drohende Fäuste, beschädigte Häuser, mit blutigen blauweiß-roten Fahnen zugedeckte Tote, junge Leute auf Motorrädern, die mit rasender Geschwindigkeit um die Panzer kreisten und die Nationalfahne an langen Stangen schwenkten, Mädchen in unglaublich kurzen Miniröcken, die die armen, sexuell ausgehungerten russischen Soldaten provozierten, indem sie vor deren Augen unbekannte Passanten küßten. Wie bereits gesagt, die russische Invasion war nicht nur eine Tragödie, sondern auch ein Fest des Hasses, getragen von einer sonderbaren (niemandem mehr erklärbaren) Euphorie.
Sie hatte in die Schweiz etwa fünfzig Fotografien mitgenommen, die sie selbst mit Sorgfalt und nach allen Regeln der Kunst entwickelt hatte. Sie bot sie einer großen Illustrierten an. Der Redakteur empfing sie freundlich (alle Tschechen trugen noch die Aureole ihres Unglücks, das die guten Schweizer rührte), ließ sie in einem Sessel Platz nehmen, sah sich die Aufnahmen an, lobte sie und erklärte ihr, daß es jetzt, da die Ereignisse schon so weit zurücklagen, keine Möglichkeit mehr gebe, sie zu publizieren (»Obwohl sie sehr schön sind!«).
»In Prag ist aber nichts zu Ende!« protestierte sie und versuchte, ihm in schlechtem Deutsch klarzumachen, daß in ihrem besetzten Land gerade jetzt Arbeiterräte gebildet würden, die Studenten aus Protest gegen die Okkupation streikten und das ganze Land auf seine Weise weiterlebte. Das war doch gerade das Unglaubliche! Und das sollte niemanden mehr interessieren!
Der Redakteur war erleichtert, als eine energische Frau den Raum betrat und das Gespräch unterbrach. Sie überreichte ihm ein Dossier und sagte: »Das ist die Reportage über den FKK-Strand.«
Der Redakteur war ein feinfühliger Mensch und fürchtete, daß die Tschechin, die Panzer fotografiert hatte, Bilder nackter Menschen am Strand frivol finden könnte. Er schob das Dossier so weit wie möglich an den Tischrand und sagte schnell zu der Frau: »Ich möchte dir eine Prager Kollegin vorstellen. Sie hat mir großartige Fotos gebracht.«
Die Frau gab Teresa die Hand und nahm die Fotos.
»Schauen Sie sich solange meine Bilder an«, sagte sie.
Teresa beugte sich über das Dossier und nahm die Aufnahmen heraus.
Der Redakteur sagte fast entschuldigend zu ihr: »Das ist das pure Gegenteil dessen, was Sie fotografiert haben.«
Teresa erwiderte: »Aber nein. Es ist genau dasselbe.«
Niemand verstand diesen Satz, und selbst mir bereitet es gewisse Schwierigkeiten zu erklären, was Teresa sagen wollte, als sie den FKK-Strand mit der russischen Invasion verglich. Sie schaute sich die Aufnahmen an und verharrte lange bei einem Foto, auf dem eine vierköpfige Familie im Kreis herum dastand: die nackte Mutter beugte sich über ihre Kinder, so daß die großen Brüste herunterhingen wie das Euter einer Ziege oder einer Kuh; den vornübergeneigten Mann sah man von hinten, und sein Sack glich ebenfalls einem Miniatureuter.
»Gefällt es Ihnen nicht?« fragte der Redakteur.
»Es ist gut aufgenommen.«
»Vermutlich ist sie vom Thema schockiert«, sagte die Fotografin, »man sieht Ihnen an, daß Sie nicht an einen FKK-Strand gehen würden.«
»Nein«, sagte Teresa.
Der Redakteur lächelte. »Man kann eben doch sehen, wo Sie herkommen. Die kommunistischen Länder sind schrecklich puritanisch.«
Die Fotografin sagte mit mütterlicher Liebenswürdigkeit: »Nackte Körper, da ist doch nichts dabei! Das ist doch ganz normal! Und alles, was normal ist, ist schön!«
Teresa mußte an ihre Mutter denken, wie sie nackt in der Wohnung herumging. Sie hörte das Gelächter hinter ihrem Rücken, als sie schnell die Vorhänge zuzog, damit niemand die Mutter sehen konnte.
Die Fotografin lud Teresa zu einem Kaffee in die Kantine ein.
»Ihre Fotos sind sehr interessant. Ich habe bemerkt, daß Sie ein außergewöhnliches Gespür für den weiblichen Körper haben. Sie wissen, woran ich denke! An diese jungen Frauen in provozierenden Positionen.«
»Wie sie vor den russischen Panzern die Passanten küssen?«
»Genau. Sie wären eine hervorragende Modefotografin. Man müßte allerdings erst ein Modell finden. Am besten ein Mädchen, das sich auch erst durchsetzen muß, genau wie Sie.
Dann könnten Sie für eine Firma Probeaufnahmen machen.
Es dauert natürlich eine gewisse Zeit, bis man den Durchbruch geschafft hat. Solange könnte ich vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher