Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Die Nacht und der Tag kämpften um sie.
Wer stets >höher hinaus< will, muß damit rechnen, daß ihn eines Tages Schwindel überfällt. Was ist das, Schwindel? Angst vor dem Fall? Wieso überkommt uns dann Schwindel auch auf einem Aussichtsturm, der mit einem Geländer gesichert ist? Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. Schwindel bedeutet, daß uns die Tiefe anzieht und lockt, sie weckt in uns die, Sehnsucht nach dem Fall, eine Sehnsucht, gegen die wir uns dann erschrocken wehren.
Der Umzug der nackten Frauen um das Schwimmbecken, die Toten im Leichenwagen, die sich freuten, daß Teresa so tot war wie sie, das war jenes >Unten<, das sie entsetzte und vor dem sie schon einmal geflüchtet war, von dem sie aber geheimnisvoll angezogen wurde. Das war ihr Schwindelgefühl: sie vernahm einen süßen (fast fröhlichen) Ruf zum Verzicht auf Schicksal und Seele. Sie vernahm einen Ruf zur Solidarität mit den Seelenlosen, und in Momenten der Schwäche wollte sie diesem Ruf Folge leisten und zur Mutter zurückkehren. Sie wollte die Mannschaft der Seele vom Deck ihres Körpers abkommandieren, sich zu den Freundinnen ihrer Mutter setzen und darüber lachen, daß eine von ihnen geräuschvoll Winde fahren ließ; nackt mit ihnen um das Schwimmbad marschieren und singen.
Es ist richtig, daß Teresa mit der Mutter gekämpft hatte, solange sie zu Hause lebte, wir dürfen aber nicht vergessen, daß sie sie gleichzeitig unglücklich liebte. Sie wäre bereit gewesen, alles für sie zu tun, wenn die Mutter sie mit der Stimme der Liebe darum gebeten hätte. Nur weil sie diese Stimme nie gehört hatte, fand sie die Kraft wegzugehen.
Als die Mutter begriff, daß ihre Aggressivität keine Macht über die Tochter mehr hatte, schrieb sie ihr Briefe voller Klagen nach Prag. Sie beklagte sich über ihren Mann, über ihren Chef, über die Gesundheit, über die Kinder, und nannte Teresa den einzigen Menschen, den sie auf der Welt hätte. Teresa glaubte, endlich die Stimme der Mutterliebe zu vernehmen, nach der sie sich zwanzig Jahre lang gesehnt hatte, und sie wollte nach Hause zurückkehren. Dies um so mehr, als sie sich schwach fühlte. Tomas' Untreue hatte ihr plötzlich ihre Ohnmacht offenbart, und aus diesem Gefühl der Ohnmacht entstand der Schwindel, die unermeßliche Sehnsucht nach dem Fall.
Einmal rief die Mutter sie an. Sie habe Krebs. Ihr Leben werde nur noch ein paar Monate dauern. Diese Nachricht verwandelte Teresas Verzweiflung über Tomas' Untreue in Auflehnung. Sie warf sich vor, die Mutter wegen eines Mannes, der sie nicht liebte, verraten zu haben. Sie war bereit, alles zu vergessen, womit die Mutter sie gequält hatte. Sie war sogar in der Lage, sie zu verstehen. Sie waren beide in derselben Situation: die Mutter liebte den Stiefvater, wie Teresa Tomas liebte, und der Stiefvater quälte die Mutter mit seinen Seitensprüngen genau so, wie Tomas Teresa quälte.
Wenn die Mutter mit Teresa böse gewesen war, so einzig deshalb, weil sie zu sehr litt.
Sie erzählte Tomas von der Krankheit der Mutter und teilte ihm mit, sie werde eine Woche Urlaub nehmen, um zu ihr zu fahren. In ihrer Stimme war Trotz.
Als spürte er, daß es das Schwindelgefühl war, das Teresa zur Mutter hinzog, war er gegen die Reise. Er telefonierte mit dem Krankenhaus in der kleinen Stadt. Krankenberichte von Krebsuntersuchungen werden in Böhmen sehr gründlich geführt, so daß er leicht feststellen konnte, daß bei Teresas Mutter nie ein Krebssymptom diagnostiziert worden war und sie im Verlauf des letzten Jahres überhaupt keinen Arzt aufgesucht hatte.
Teresa hörte auf Tomas und fuhr nicht zur Mutter. Noch am selben Tag fiel sie auf der Straße hin und verletzte sich das Knie. Ihr Gang war unsicher geworden, sie fiel fast täglich hin, verletzte sich oder ließ Gegenstände fallen, die sie in der Hand hielt. Sie verspürte eine unendliche Sehnsucht nach dem Fall. Sie lebte in einem fortwährenden Schwindel. Wer hinfällt, sagt: »Hilf mir auf!« Geduldig half Tomas ihr auf.
19.
»Ich möchte Dich in meinem Atelier lieben wie auf einer Bühne. Ringsherum stehen Leute, die keinen Schritt näher kommen dürfen. Aber sie können die Augen nicht von uns losreißen ...«
Im Laufe der Zeit verlor dieses Bild seine ursprüngliche Grausamkeit und begann, sie zu erregen. Manchmal, wählend der Liebe, rief sie Tomas diese Situation flüsternd in Erinnerung.
Sie sagte sich, daß es einen Ausweg gab, um der Verdammung zu entrinnen, die
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