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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Bürgermeister eines Provinzstädtchens gewesen war; Sabina hatte ihn nicht gekannt; alles, was von ihm geblieben war, waren dieser Hut und ein altes Foto, auf dem die kleinstädtischen Würdenträger auf einer Tribüne standen; einer von ihnen war der Großvater; es war nicht klar, was sie auf der Tribüne machten, vielleicht enthüllten sie ein Denkmal für einen anderen Würdenträger, der bei feierlichen Anlässen ebenfalls eine Melone getragen hatte.
    Sabina erzählte lange von der Melone und dem Großvater.
    Als sie das dritte Glas geleert hatte, sagte sie »Warte mal« und verschwand im Badezimmer.
    Sie kam im Bademantel zurück. Teresa nahm den Fotoapparat und hielt ihn vors Auge. Sabina öffnete den Mantel.
    Der Apparat diente Teresa als mechanisches Auge, um Tomas' Freundin zu beobachten, zugleich aber auch als Schirm, um ihr Gesicht dahinter zu verbergen.
    Sabina brauchte eine gewisse Zeit, bis sie sich entschloß, den Mantel auszuziehen. Die Situation war doch etwas schwieriger, als sie vorhergesehen hatte. Nachdem sie eine Weile posiert hatte, ging sie auf Teresa zu und sagte: »Und jetzt fotografiere ich dich. Zieh dich aus!«
    Die Worte »Zieh dich aus!« hatte Sabina oft von Tomas gehört, und sie hatten sich ihr tief ins Gedächtnis eingegraben. Es war also sein Befehl, den die Freundin nun an die Ehefrau richtete. Tomas hatte die beiden Frauen durch denselben magischen Satz verbunden. Es war ganz seine Art, ein harmloses Gespräch unerwartet in eine erotische Situation zu verwandeln: nicht durch Liebkosen, Berühren, Schmeicheln oder Bitten, sondern durch einen Befehl, den er plötzlich erteilte, überraschend und leise, aber nachdrücklich und gebieterisch, und immer aus einer gewissen Entfernung: in diesem Moment berührte er die Frauen nie. Auch zu Teresa sagte er oft in demselben Ton »Zieh dich aus!«, und selbst wenn er es nur leise sagte, selbst wenn er es nur flüsterte, war es ein Befehl, und sie war schon darum erregt, weil sie ihm gehorchte. Nun hörte sie dieselben Worte, und ihre Lust zu gehorchen war vielleicht um so größer, als es ein sonderbarer Wahnsinn war, jemand Fremdem zu gehorchen, ein um so schönerer Wahnsinn, als der Befehl nicht von einem Mann kam, sondern diesmal von einer Frau.
    Sabina nahm Teresa den Apparat aus der Hand und Teresa zog sich aus. Nackt und entwaffnet stand sie vor Sabina. Im wahrsten Sinne des Wortes entwaffnet, das heißt ohne ihren Apparat, hinter dem sie eben noch ihr Gesicht versteckt und den sie gleichzeitig wie eine Waffe auf Sabina gerichtet hatte.
    Sie war Tomas' Freundin ausgeliefert. Diese schöne Ergebenheit berauschte sie. Sie wünschte, die Sekunden, da sie nackt vor Sabina stand, gingen nie zu Ende.
    Ich denke, daß der einzigartige Zauber der Situation auch Sabina gefangenhielt: die Frau ihres Liebhabers stand sonderbar ergeben und schüchtern vor ihr. Zweioder dreimal drückte sie auf den Auslöser und lachte dann laut auf, als fürchtete sie diesen Zauber und wollte ihn schnell verscheuchen.  Teresa lachte mit, und die beiden Frauen zogen sich wieder an.
    23.
    Alle früheren Verbrechen des russischen Reiches wurden im Schütze eines diskreten Halbdunkels begangen. Die Deportation einer Million Litauer, die Ermordung von Hunderttausenden von Polen, die Liquidierung der Krimtataren, all das ist ohne fotografische Dokumente in unser Gedächtnis gegraben, ist also etwas Unbeweisbares, das man früher oder später zu einer Mystifikation erklären wird. Im Gegensatz dazu wurde die Invasion in die  Tschechoslowakei im Jahre 1968 fotografiert, gefilmt und in allen Archiven der Welt deponiert.
    Die tschechischen Fotografen und Kameraleute hatten sehr wohl begriffen, daß es ihre Aufgabe war, das einzige zu tun, was es noch zu tun gab: für die ferne Zukunft das Bild der Gewalt festzuhalten. Teresa hatte diese sieben Tage auf der Straße verbracht, um russische Soldaten und Offiziere in belastenden Situationen zu fotografieren. Die Russen wußten nicht, was sie tun sollten. Sie hatten genaue Instruktionen, wie sie sich zu verhalten hätten, wenn auf sie geschossen oder mit Steinen geworfen würde, aber niemand hatte ihnen Weisungen erteilt, wie sie zu reagieren hätten, wenn man ein Objektiv auf sie richtete.
    Teresa belichtete mehr als hundert Filme. Etwa die Hälfte davon gab sie unentwickelt an ausländische Journalisten weiter (die Grenze war noch immer offen, Journalisten kamen angereist, meist nur auf einen Sprung, und waren dankbar für

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