Die ungehorsame Tochter
Gemächlichkeit des beginnenden Tages, gerade weil sie sich dieses Luxus sehr bewusst
war. Die Zeiger der Uhr auf der Kommode zwischen den hohen Fenstern zeigten schon halb zehn.
Tatsächlich begann nur für sie der Tag erst jetzt. Claes Herrmanns hatte wie an jedem Morgen um diese Zeit schon zwei Stunden
in seinem Kontor verbracht. Niklas, ihr jüngerer Stiefsohn, saß längst auf seiner Bank in der Lateinschule Johanneum, und
Christian, der ältere und schon Kaufmann wie sein Vater, war bald nach Sonnenaufgang zum neuen Herrmanns’schen Speicher am
Hafen gegangen.
Selbst Augusta Kjellerup, die Tante des Hausherrn, hatte sich heute schon früh ins Johanniskloster zu Domina Mette van Dorting
kutschieren lassen. Die beiden Damen planten ein neues Unternehmen, aus dem sie zwar ein großes Geheimnis machten, von dem
dennoch die halbe Stadt wusste: Nachdem sie sich lange und genussvoll über die Qualität der Holberg’schen Komödien gestritten
hatten, waren sie zumindest darin einig gewesen, dass die deutschen Übersetzungen miserabel seien. Eine wie die andere altmodisch
und ohne den Biss, der den großen dänischen Dichter doch gerade auszeichnete. Eben durch und durch brav. Da sie mit dieser
Meinung in der Stadt ziemlich alleine waren und trotz aller Missionsversuche auch blieben, fand sich niemand, der eine bessere
zu machen bereit war. So beschlossen sie, selbst zur Tat zu schreiten. Seitdem hockten sie an drei Vormittagen der Woche im
Salon der ersten Dame von St. Johannis, tranken unanständig viel Kaffee, weil das ihren Geist beflügelte, und strapazierten die Nerven eines jungen Hilfsgeistlichen,
der bestellt war, ihre zwar guten, doch ebenfalls recht altbackenen Dänischkenntnisse aufzupolieren.
Alle im Hause Herrmanns waren beschäftigt, auch Claes würde bald wieder seinen Geschäften nachgehen,und sie – Anne Herrmanns seufzte ein zweites Mal, diesmal allerdings nicht wohlig, sondern ratlos. Alle waren ständig beschäftigt,
nur sie nicht. Im Januar hatte sie beschlossen, doch noch eine gute Hausfrau zu werden, und alle Leintücher der Tisch- und
Nachtwäsche zu zählen. Auch dem Tafelsilber wollte sie eine neue Ordnung geben. Zur besseren Übersicht hatte sie lange Listen
angelegt, die Elsbeth an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten. Die Köchin und eigentliche Herrin des Haushaltes hatte
alles im Kopf und brauchte diesen unnötigen Papierkrieg so dringend wie ein Schoßhund Flöhe. Sicherheitshalber hatte sie gestern
ihrer Herrin diskret bedeutet, dass deren Hilfe bei der großen Waschwoche, die wie immer im März bevorstand, nicht vonnöten
sei.
Immerhin würde Anne sich, sobald dieser endlose Winter vorbei war, wieder ihrem Garten vor der Stadt widmen können. Soweit
die Gärtner es zuließen.
Sie mochte den Winter nicht, der in diesem Land noch weniger ein Ende nehmen wollte als anderswo. Die kleine englische Insel
nahe der französischen Küste, von der sie stammte, lag nur um wenige Breitengrade südlicher als ihre neue Heimat, aber je
länger sie fort war, umso lieblicher und wärmer wurde sie in ihrer Erinnerung. Wohl gab es auch dort in manchen Jahren eisige
Winterwochen, aber im März blühten schon Veilchen und Apfelbäume, leuchteten in den Gärten der großen Häuser Tulpen und Narzissen
– nun gut, nicht in jedem Jahr, aber doch in den meisten. Selbst der Nebel, der hin und wieder auch die weite Bucht von St. Aubin heimsuchte, gab dort stets nach wenigen Stunden auf.
«Hör mal, Anne, das ist interessant.» Claes Herrmannswarf seiner Frau einen kurzen Blick zu und begann vorzulesen:
«‹Von Neu-York wird gemeldet, dass zwei Söhne zweier vornehmer Indianer die englische Sprache erlernt hätten und dass sie
nun mit allem Fleiß die Arzneikunst und Chirurgie studieren, sonderlich die Wissenschaft der Inoculation, da die Blatternkrankheit
jährlich unter den Indianern grassiert und sehr viele hinwegrafft. Die Indianer werden immer geneigter, sich zum Christentum
zu bekennen und gesittete Leute zu werden.›
Erstaunlich», schloss er, «höchst erstaunlich. Findest du nicht?»
«Unbedingt, Claes. Wirklich erstaunlich.» Sie hatte schon vor geraumer Zeit aufgegeben, ihm zu erklären, dass sie es nicht
liebte, ausgewählte Häppchen aus einer Zeitung vorgelesen zu bekommen, die sie später selbst lesen wollte. «Möchtest du noch
Tee?»
«Unglaublich», murmelte er und nickte, wobei er nicht den Tee meinte, sondern
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