0652 - Der Bogie-Mann
Tippy Drake hatte sich ausgezogen. Sie hockte mit angezogenen Beinen nackt auf ihrer Jeans. Das blasse Mondlicht übergoss den Körper und gab ihm einen »marmornen« Schimmer.
Mir erschien Tippy wie ein Engel. Oder wie eine Eva, denn sie aß einen rotbäckigen Apfel, schaute mich dabei an und gab sich völlig natürlich. Nacktheit schien für sie nichts Ungewöhnliches zu sein.
Wir waren allein. Tippy wusste, wer ich war, deshalb fürchtete sie sich auch nicht. Der Nachtwind wehte noch warm über die Berge hinweg und streichelte Tippys Haut.
Nicht weit entfernt rauschte der Bach. Er entsprang in den Bergen. In engen Kehren sammelte sich das Wasser, bekam dort Kraft und fegte durch das steinige Flussbett ins Tal hinab, das links von uns wie eine große Schüssel lag.
Sich auszuziehen und zu baden, das war plötzlich über Tippy gekommen.
Ich hatte sie gelassen, denn sie bot einen erfreulichen Anblick mit ihrer jugendlich straffen Figur und dem dunklen Haar, das sie glatt nach hinten gestrichen hatte.
Da Tippy kein Handtuch bei sich trug, musste sie warten, bis der Wind die Nässe von ihrem Körper getrocknet hatte. Sie aß den Apfel und lächelte dabei.
»Irritiert es dich, John?«
»Deine Nacktheit?«
»Zum Beispiel.«
Ich hob die Schultern. Auf ihrem schmalen Gesicht lag ein erwartungsvolles Lächeln. »Nun ja, ich will nicht gerade behaupten, dass es mich kalt lässt. Du bist ein schönes Mädchen.«
Sie hob den Zeigefinger. »Kein Mädchen, eine Frau.«
»Mit zwanzig?«
»Klar doch.«
»Wie du willst,«
»Meine Schwestern sind älter, wenn auch nur wenige Jahre, aber immerhin.« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Hilf mir mal hoch, bitte.«
Das tat ich auch. Als Tippy stand, reckte sie sich auf die Zehenspitzen und bog ihren Rücken durch, indem sie zusätzlich die Hände gegen die Hüften stützte. »Das hat gut getan«, sagte sie.
»Was?« Ich hatte mich gebückt und ihre Jeans hochgehoben, in der noch der Slip steckte.
»Das Bad natürlich.«
»Kann ich mir denken.«
»Du hättest auch eins nehmen sollen.«
»Möglich. Aber sind die anderen Dinge nicht wichtiger?«
Da lachte sie, war blitzschnell bei mir und legte ihre Arme um meinen Hals. »John, was du wieder hast. Alles ist wichtig im Leben. Die Liebe, die Freunde, aber auch der Hass und der Tod. Das eine schließt das andere nicht aus. Keine Sorge, du wirst es noch früh genug sehen.«
»Du bist davon überzeugt, dass er es gewesen ist?«
»Ja, John Sinclair. Er lebt wieder, er ist wieder da. Er quält die Menschen wieder und reißt Familien auseinander. Die Legenden stimmen, ich weiß das genau. Es gibt bereits Eltern, die wieder die alten Warnungen aussprechen. Früher…« Sie winkte ab. »Ach, was sage ich. Noch vor ein paar Monaten hat man darüber gelacht. Jetzt nicht mehr, John. Man hat Angst bekommen, dass er wieder umgeht. Es sind einige Kinder verschwunden und nie wieder aufgetaucht.«
Ich schwieg und schaute zu, wie sich Tippy anzog. Sie hatte Recht gehabt. Es ging um die verschwundenen Kinder und es hieß weiter, dass sie nicht einfach aus dem Elternhaus weggelaufen, sondern in die Klauen des BogieMannes geraten wären, der - so stand es in der Sage - Schreckliches mit ihnen anstellte.
Der Bogie-Mann war eines der fürchterlichsten und grausamsten Gespenster, mit denen sich englische und schottische Sagen beschäftigten. Manche hielten ihn für eine Abart des Teufels. Diejenigen, die über ihn lachten und keinen Respekt bezeugten, lernten seine Grausamkeit kennen und bezahlten diese oft mit dem Tod. Man hatte die Bogie-Männer auch für die Mächtigsten aller Geister gehalten, weil sie zu den direkten Helfern des Teufels gehörten.
So weit die Geschichten.
Man konnte sie glauben oder es bleiben lassen. Jedenfalls waren in einem Gebiet an der englisch-schottischen Grenze einige Personen verschwunden, darunter auch Kinder. Es hatte angeblich Zeugen gegeben, die den Bogie-Mann sahen.
Ob etwas Wahres daran war, wusste ich nicht. Bisher hatte mich Tippy, eine der Zeuginnen, noch nicht dorthin geführt, wo ich die Spur des Bogie-Mannes aufnehmen konnte.
»Fertig«, sagte sie und streckte sich in ihrer Jeanshose, die doch ziemlich eng saß. So stramm, dass kein Blatt Papier zwischen Stoff und Haut mehr gepasst hätte.
»Dann lass uns gehen! Wohin?«
Sie deutete den Wildbach entlang, der schäumend durch das schmale Steinbett jagte. »Unten im Tal mündet er in einen kleinen See. Da in der Nähe ist es.«
»Hätten
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