Die ungehorsame Tochter
den grauen Dunst und entdeckte zufrieden den blassen hellen Fleck. Da war sie, die Sonne.
Auch der dringend erwartete Wind würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Er blieb auf der Schaarsteinwegbrücke stehen und sah suchend über den Herrengraben, der sich wie eine offene, schwarz schwärende
Wunde nach Norden erstreckte. Er hatte Lärm und eine kleine Armee von Arbeitern erwartet, doch es war still, und kein Einziger
war zu sehen. Zwei Jahre hatte eine verschlossene Schleuse dafür gesorgt, dass der Herrengraben austrocknen konnte, und endlich,
vor drei Wochen, konnten die Arbeiter des Bauhofes beginnen, die halb getrocknete, halb gefrorene, doppelt mannshohe Schlammschicht
auszuheben undabzufahren. Am Ufer warteten nun riesige Haufen von Eichenstämmen (ganz gewiss keine aus Schottland), um für die schweren
Bohlen der neuen Vorsetzen in die Erde gerammt zu werden. Umso unverständlicher, dass die Baustelle völlig verlassen lag.
Der Herrengraben, in alter Zeit, als die Neustadt noch außerhalb der Mauern lag, ein von der Alster gespeister Festungsgraben
längs des alten Stadtwalles, mündete direkt im Niederhafen in die Elbe. Er war schon seit Jahren ein Ärgernis. Früher hatten
nur die Bürgermeister und Ratsherren das Fischereirecht in dem breiten Fleet, inzwischen barg es nichts als Schlamm und trübe
Brühe, in die nur die noch ihre Kescher tauchten, die zu lahm waren, weiterzulaufen, oder zu arm, um sich Fische zu kaufen.
Die ewige Bewegung von Ebbe und Flut, die die anderen Fleete halbwegs sauber hielt, konnte in diesem im Schlamm ertrunkenen
Areal nur wenig ausrichten. Der Herrengraben war zu einem im Sommer unerträglich stinkenden, mit Modder und Unrat gefüllten
Pfuhl geworden. Die unbefestigten Ufer hatten sich immer weiter ausgedehnt, sodass das Fleet nun beinahe dreihundertfünfzig
Fuß breit war. Immer wieder hatten die Bürger der Neustadt sich beim Rat über das stinkende Ärgernis beschwert, seit nahezu
zwölf Jahren forderte die Commerzdeputation einen Ausbau des verschlammten Fleets zum schiffbaren, von Speichern gesäumten
Kanal. Sieben Gutachten hatten Baumeister Sonnin und Professor Büsch seither erstellt, stets in Abstimmung mit der Kaufmannschaft.
Nun endlich, nicht zuletzt durch ständigen Druck der Commerzdeputation, hatten Rat und Bürgerschaft beschlossen, den Herrengraben
als Erweiterung des längst zu klein gewordenen Binnenhafensauszubauen. Ein gewaltiges Unternehmen, das mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde.
Claes Herrmanns klopfte beruhigend den Hals seines Pferdes, das es gar nicht liebte, auf Brücken herumzustehen, und sah sich
ratlos um. Er war sicher gewesen, Baumeister Sonnin hier zu treffen. Der hatte zwar nicht die Bauaufsicht über die Arbeiten
bekommen, aber da seine und Professor Büschs Pläne dem Ausbau des Herrengraben zugrunde lagen, trieb er sich ständig hier
herum, guckte dem Bauinspektor über die Schulter und gab unerbetene Ratschläge. Claes musste Sonnin unbedingt sprechen. Natürlich
hätte er einen Boten oder einen der Kontorlehrlinge schicken können, aber auch wenn Anne klagte, das Wetter sei immer noch
wie im tiefsten Winter, roch er doch den Frühling in der Luft und nutzte jede Gelegenheit, das Kontor zu verlassen. Es musste
ja nicht gleich ein scharfer Galopp vor den Wällen sein, aber ein friedlicher Ritt durch die Stadt gab ihm doch das Gefühl,
den Winterschlaf abzuschütteln.
Der Teufel wusste, warum die Arbeit heute ruhte, Sonnin würde es ihm gewiss erklären. Er schnalzte leise, und der Fuchs setzte
sich in Bewegung, als habe er nur auf den vertrauten Klang gewartet. Wenn nicht hier, würde er Sonnin beim Neubau des Hanfmagazins
finden.
Er ritt weiter durch die Neustadt. Die ganze Stadt summte heute vor Lebendigkeit. Die Straßen waren voller Menschen, und auch
wenn die meisten noch in dicke Tücher und Jacken gehüllt waren, schien ihm, als bewegten sie sich freier, als beugten sie
nicht mehr Schultern und Köpfe gegen die Kälte. Als sei die Sonne tatsächlich schon durch den Dunst gekrochen und wärme das
Land, standen überall Fenster weit offen, baumelten Wäscheund Bettzeug träge auf den zwischen die vorkragenden Fachwerkgiebel gespannten Leinen, wurde überall geputzt und gescheuert.
Er bog von der Mühlstraße in den Zeughausmarkt ein und konnte gerade noch dem trüben Inhalt eines Wassereimers ausweichen,
der aus einer der Kellerwohnungen mit Schwung auf
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