Die Ungetroesteten
schwieg, sagte ich zu ihm:
»Wenn du möchtest, Boris, kann ich ja mit dir hingehen. Ja, wir können zusammen hingehen, nur wir zwei. Zurück in die alte Wohnung, und da holen wir dann Nummer Neun. Das können wir bald mal machen. Vielleicht schon morgen, wenn ich eine freie Minute habe. Und du hast dann ja den Kleber. Der kommt ganz schnell wieder in Ordnung. Also mach dir keine Sorgen. Wir machen das bald mal.«
Wieder entschwand Sophies Gestalt unserem Blick, diesmal so unvermittelt, daß ich glaubte, sie müsse in ein Haus hineingegangen sein. Boris zog mich an der Hand, und wir beide liefen schnell zu der Stelle, an der sie verschwunden war.
Bald entdeckten wir, daß Sophie in eine winzige Seitengasse eingebogen war, deren Öffnung zur großen Straße hin kaum mehr als ein Mauerriß zu sein schien. Die Gasse fiel so steil ab und sah so eng aus, daß es kaum möglich schien hindurchzugelangen, ohne sich an einer der beiden rauhen Wände, die sie umschlossen, einen Ellenbogen aufzukratzen. Die Dunkelheit wurde nur von zwei Straßenlaternen durchbrochen, eine auf halber Höhe der Gasse, die andere ganz an ihrem Ende.
Boris umklammerte meine Hand, als wir den Abstieg die Gasse hinunter begannen, und bald atmete er wieder angestrengt. Nach einer Weile merkte ich, daß Sophie schon das Ende der Gasse erreicht hatte, aber schließlich schien sie unsere mißliche Lage bemerkt zu haben, blieb unter der hinteren Laterne stehen und schaute mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck zu uns zurück. Als wir endlich bei ihr waren, sagte ich wütend:
»Na hör mal, siehst du denn nicht, daß wir Mühe haben, mit dir Schritt zu halten? Das war ein anstrengender Tag, für mich genausogut wie für Boris.«
Sophie lächelte verträumt. Dann legte sie einen Arm um die Schulter des kleinen Jungen und zog Boris zu sich heran. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie sanft zu ihm. »Ich weiß, es ist ein bißchen unangenehm hier, und es ist kalt und regnerisch. Aber mach dir nichts draus, bald sind wir zu Hause. Dort wird es sehr warm sein, dafür werden wir schon sorgen. Warm genug, daß wir alle nur im T-Shirt herumlaufen können, wenn wir wollen. Und da sind diese großen neuen Sessel, in die man sich so schön hineinkuscheln kann. Ein kleiner Junge wie du geht in solch einem Sessel richtig verloren. Und du kannst dir deine Bücher ansehen oder ein Video gucken. Oder wenn du magst, holen wir ein paar Brettspiele vom Regal. Ich hole sie dir alle herunter, und du kannst mit Mr. Ryder spielen, welches du willst. Du könntest die großen roten Kissen auf den Teppich legen und das Spiel auf dem Boden ausbreiten. Und ich werde uns währenddessen etwas zum Abendessen machen und den Tisch in der Ecke decken. Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich statt einer großen Mahlzeit eine Auswahl von mehreren kleinen Sachen machen. Kleine Fleischbällchen, winzige Käsepastetchen, kleine Kuchen. Nur keine Sorge, ich werde an all deine Lieblingsgerichte denken, und ich werde alles auf dem Tisch anrichten. Dann können wir uns hinsetzen und essen, und danach können wir alle drei zusammen weiterspielen. Wenn du keine Lust mehr hast zu spielen, hören wir natürlich auf. Vielleicht möchtest du ja auch mit Mr. Ryder über Fußball reden. Und dann, aber erst wenn du richtig müde bist, kannst du ins Bett gehen. Ich weiß, dein neues Zimmer ist sehr klein, aber es ist auch sehr gemütlich, das hast du doch selbst gesagt. Du wirst heute nacht bestimmt ganz tief und fest schlafen. Diesen kalten, unangenehmen Spaziergang wirst du bis dahin längst vergessen haben. Tatsächlich wirst du das alles schon in dem Moment vergessen haben, wenn du durch die Tür kommst und die schöne warme Heizung spürst. Also nur nicht den Mut verlieren. Wir haben es nicht mehr weit.«
Während sie das alles sagte, hatte sie Boris fest im Arm gehabt, doch jetzt ließ sie ihn plötzlich los, drehte sich um und machte sich wieder auf den Weg. Die Plötzlichkeit dieses Aufbruchs überraschte mich sehr – denn ich selbst war von ihren Worten mehr und mehr eingelullt worden und hatte einen Moment lang die Augen geschlossen. Auch Boris sah verwirrt aus, und als ich endlich seine Hand genommen hatte, war uns seine Mutter schon wieder einige Schritte voraus.
Ich wollte sie auf keinen Fall wieder zu weit vorauslaufen lassen, doch gerade in dem Augenblick hörte ich hinter uns Schritte, und ich konnte einfach nicht anders, ich mußte eine Sekunde zurückbleiben und die Gasse hinauf
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