Die Ungetroesteten
für einen kurzen Moment sogar die Augen hätte schließen können und dann verträumt lächelnd dagestanden hätte. Aber Boris, der jetzt wieder zu uns zurückkam, riß mich aus dieser träumerischen Stimmung.
»Es ist ganz einfach im Dunkeln«, sagte er.
Da merkte ich, daß Boris kalt und irgendwie mitgenommen aussah. Seine ganze Energie von vorhin schien verpufft, und ich hatte das Gefühl, daß die Vorstellung, die er gerade gegeben hatte, eine ungeheure Kraftanstrengung von ihm gefordert hatte.
»Wir gehen jetzt alle zurück in die Wohnung«, sagte ich. »Da werden wir dann etwas Ordentliches essen.«
»Also kommt«, sagte Sophie und ging los. »Es wird sonst zu spät.«
Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, und nun nach dem Sonnenuntergang war es wesentlich kühler. Boris nahm wieder meine Hand, und von dem Spielplatz folgten wir Sophie in eine kleine, verlassene Seitenstraße hinein.
VIER
Es war offensichtlich, daß wir die Altstadt jetzt hinter uns gelassen hatten. In den schmuddeligen Mauern aus Ziegelsteinen, die zu beiden Seiten in die Höhe ragten, waren keine Fenster, es schienen die Rückwände von Lagerhäusern zu sein. Während wir immer weiter die Straße entlanggingen, schritt Sophie zielstrebig aus, und schon bald merkte ich, daß Boris Mühe hatte, Schritt zu halten. Aber als ich ihn fragte: »Gehen wir zu schnell?«, schaute er mich nur wütend an.
»Ich kann sogar noch viel schneller gehen!« rief er und fiel in eine Art Trab, wobei er mich an der Hand hinterherzog. Aber fast sofort wurde er wieder langsamer, auf seinem Gesicht lag ein schmerzlicher Ausdruck. Obwohl ich weiterhin recht langsam ging, hörte ich nach einer Weile, daß er sehr angestrengt atmete. Und dann fing er an, etwas vor sich hin zu murmeln. Zuerst achtete ich nicht sehr darauf, weil ich annahm, daß er einfach nur versuchte, sich anzustacheln. Doch dann hörte ich ihn flüstern:
»Nummer Neun... Es ist die Nummer Neun...«
Voller Neugierde schaute ich ihn an. Er sah naß und kalt aus, und ich hatte das Gefühl, ich müßte ihn dazu bringen, mit mir zu sprechen.
»Diese Nummer Neun«, fragte ich. »Ist das ein Fußballspieler?«
»Der beste Fußballspieler von der ganzen Welt.«
»Nummer Neun. Ja, natürlich.«
Vor uns verschwand Sophies Gestalt um eine Ecke, und der Griff, mit dem Boris meine Hand umklammert hatte, wurde fester. Bis zu dem Augenblick hatte ich nicht richtig eingeschätzt, wie weit wir seine Mutter hatten vorangehen lassen, und obwohl wir unsere Schritte jetzt beschleunigten, schien eine übermäßig lange Zeit zu vergehen, ehe wir selbst die Ecke erreichten. Als wir endlich um die Ecke gebogen waren, sah ich zu meiner Verärgerung, daß Sophie den Abstand zwischen uns noch vergrößert hatte.
Wir kamen an weiteren schmutzigen Ziegelmauern vorüber, einige davon wiesen großflächige feuchte Flecken auf. Das Straßenpflaster war uneben, und vor uns unter den Straßenlaternen sah ich Pfützen glänzen.
»Nur keine Sorge«, sagte ich zu Boris. »Wir sind gleich da.«
Boris murmelte immer weiter vor sich hin, und in gewissen Abständen wiederholte er unter heftigen Atemstößen: »Nummer Neun... Nummer Neun...«
Von Anfang an hatte mich die »Nummer Neun«, die Boris immer wieder erwähnte, vage an irgend etwas erinnert. Als ich jetzt genauer zuhörte, was er da vor sich hin murmelte, fiel mir ein, daß die »Nummer Neun« kein wirklicher Fußballspieler war, sondern eine der kleinen Figuren aus dem Tischfußballspiel des Jungen. Die Fußballspieler, die aus weißem Plastik gegossen und an der Basis mit einem Gewicht beschwert waren, konnte man mit einem Fingerschnippen dribbeln, Pässe machen und einen winzigen Plastikball schießen lassen. Das Spiel war für zwei Spieler gedacht, von denen jeder eine Mannschaft unter sich haben sollte, doch Boris spielte immer allein und verbrachte Stunden damit, auf dem Bauch zu liegen und Spiele voller dramatischer Wendungen und nervenzerfetzender Umschwünge zu inszenieren. Er besaß sechs komplette Mannschaften sowie Miniaturtore mit richtigem Netz und ein grünes Filztuch, das man auseinanderfalten konnte und das dann das Spielfeld darstellte. Boris war voller Verachtung für die Annahme der Hersteller, daß es ihm Spaß machen würde, so zu tun, als seien die Spielzeug-Teams richtige Mannschaften, wie etwa Ajax Amsterdam oder der AC Mailand, und so hatte er seinen Mannschaften eigene Namen gegeben. Doch obwohl Boris die Stärken und Schwächen jedes
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