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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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einzelnen Spielers ganz genau kennengelernt hatte, gab er den Spielern selbst keinen Namen, sondern zog es vor, sie einfach bei der Nummer ihres Trikots zu nennen. Weil er die Bedeutung der Trikotnummern im Fußball vielleicht nicht kannte – oder weil es vielleicht einfach nur eine weitere seltsame Eigenheit seiner Phantasie war -, gab es keine Beziehung zwischen der Nummer eines Spielers und der Position, an der Boris ihn innerhalb der Mannschaftsaufstellung plazierte. So mochte etwa die Nummer Zehn einer Mannschaft ein legendärer Verteidiger im Mittelfeld sein und die Nummer Zwei ein vielversprechender junger Außenstürmer.
    Die »Nummer Neun« gehörte zur Lieblingsmannschaft von Boris und war der weitaus talentierteste aller Spieler. Doch bei all seinem Geschick war Spieler Nummer Neun eine höchst launenhafte Persönlichkeit. Er hatte seine Position in der Mannschaft irgendwo im Mittelfeld, doch über weite Strecken des Spiels mochte er sich wohl schmollend auf einem unbedeutenden Teil des Spielfelds herumtreiben, und offensichtlich war ihm in solchen Situationen nicht bewußt, daß seine Mannschaft dabei war, haushoch zu verlieren. Zuweilen mochte Nummer Neun wohl über eine Stunde in dieser Teilnahmslosigkeit zubringen, so daß seine Mannschaft vier, fünf, sechs Tore zurücklag, und dann sagte der Sportberichterstatter – denn tatsächlich gab es einen Sportberichterstatter – immer mit leicht verwirrter Stimme: »Die Nummer Neun hat bis jetzt noch nicht zu ihrer Form gefunden.« Wenn dann nur noch etwa zwanzig Minuten zu spielen waren, vermittelte Spieler Nummer Neun dann doch eine Ahnung von seinen wahren Fähigkeiten. »Na also!« rief dann der Reporter. »Endlich zeigt Spieler Nummer Neun, was er kann!« Von da an wunde das Spiel von Nummer Neun beständig stärker, bis er nach kurzer Zeit ein Tor nach dem anderen schoß und sich die gegnerische Mannschaft schließlich nur noch darauf konzentrierte, um jeden Preis zu verhindern, daß Spieler Nummer Neun überhaupt in Ballbesitz kam. Doch früher oder später bekam er den Ball, und ganz gleich wie viele gegnerische Spieler dann zwischen ihm und dem Tor standen, er fand immer eine Möglichkeit, den Ball zu plazieren. Kaum hatte er den Ball, war die Unausweichlichkeit des Ergebnisses derart, daß der Reporter ankündigte: »Das ist ein Tor«, und zwar im Tonfall resignierter Bewunderung, und nicht erst dann, wenn der Ball tatsächlich ins Netz ging, sondern in dem Augenblick, in dem Spieler Nummer Neun in Ballbesitz kam – selbst wenn dies noch in der eigenen Spielhälfte geschah. Auch die Zuschauer – es gab tatsächlich Zuschauer – setzten mit ihren triumphierenden Beifallsstürmen ein, sobald sie sahen, daß Nummer Neun den Ball hatte, und die Beifallsstürme wurden immer stärker, während sich Nummer Neun anmutig seinen Weg durch die gegnerischen Spieler bahnte, den Ball am Torhüter vorbei ins Netz brachte und sich dann umdrehte, um die Lobeshymnen seiner dankbaren Mannschaftskameraden entgegenzunehmen.
    Als mir all dies wieder einfiel, kam mir auch eine vage Erinnerung daran, daß es da vor kurzem ein Problem bezüglich der Nummer Neun gegeben hatte, also unterbrach ich das Gemurmel von Boris und fragte:
    »Wie geht es denn Nummer Neun im Moment? Ist er gut in Form?«
    Boris ging schweigend noch ein paar Schritte weiter, dann antwortete er: »Wir haben die Schachtel dagelassen.«
    »Die Schachtel?«
    »Nummer Neun hat sich von seinem kleinen Sockel gelöst. Das passiert mit vielen so, aber man kann es ganz einfach reparieren. Ich habe Nummer Neun in eine besondere Schachtel gelegt, und ich wollte ihn reparieren, wenn Mutter den richtigen Kleber besorgt hat. Ich habe ihn in die Schachtel getan, es war eine ganz besondere, damit ich nicht vergesse, wo er ist. Aber wir haben ihn dagelassen.«
    »Aha. Du meinst, ihr habt ihn da gelassen, wo ihr früher gewohnt habt.«
    »Mutter hat vergessen, ihn einzupacken. Aber sie hat gesagt, wir können bald noch mal hingehen, in die alte Wohnung, und daß er da ist. Ich repariere ihn dann wieder, wir haben jetzt die richtige Sorte Kleber. Ich habe mir ein bißchen davon aufgehoben.«
    »Aha.«
    »Mutter sagt, das kriegen wir schon wieder hin, sie wird sich um alles kümmern. Sie wird dafür sorgen, daß die neuen Leute ihn nicht aus Versehen wegwerfen. Sie hat gesagt, wir gehen bald noch mal hin.«
    Ich hatte das deutliche Gefühl, daß Boris auf irgend etwas ganz Bestimmtes hinauswollte, und als er wieder

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