Die Ungetroesteten
einer Woche gewesen, in irgendeinem Hotelzimmer, und ich hatte gehört, wie ihre Stimme am anderen Ende der Leitung schrie:
»Wie lange wollen sie denn noch von dir verlangen, daß du so weitermachst? So jung sind wir beide nicht mehr! Du hast doch wirklich genug getan! Soll es doch jetzt mal ein anderer machen!«
»Sieh mal«, hatte ich mit noch ruhiger Stimme zu ihr gesagt, »es ist einfach eine Tatsache, daß die Leute mich brauchen. Ich komme in einer Stadt an, und meistens finde ich schreckliche Probleme vor. Tiefsitzende, scheinbar unmöglich zu lösende Probleme, und die Leute sind so dankbar, daß ich gekommen bin.«
»Aber wie lange kannst du das noch für die Leute machen? Und für uns, das heißt für dich und mich und Boris, bleibt immer weniger Zeit. Ehe du es dich versiehst, ist Boris erwachsen. Es kann doch keiner von dir erwarten, daß du ewig so weitermachst. Und wieso können diese ganzen Leute sich nicht selbst um ihre Probleme kümmern? Das täte denen womöglich ganz gut!«
»Du hast ja keine Ahnung!« unterbrach ich sie ärgerlich. »Du weißt ja nicht, was du da sagst! An manchen der Orte, die ich bereise, wissen die Leute rein gar nichts. Sie haben keinen Schimmer von zeitgenössischer Musik, und wenn man sie sich selbst überläßt, dann ist es ganz klar, daß sie tiefer und immer tiefer in ihre Probleme sinken würden. Ich werde gebraucht, wieso willst du das denn nicht begreifen? Ich werde hier gebraucht! Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest!« Und da habe ich ihr dann zugeschrien: »So eine winzige Welt! Du lebst in so einer winzigen Welt!«
Wir hatten einen kleinen, von einem Gitter umgebenen Spielplatz erreicht. Er war menschenleer, und ich bemerkte, daß eine recht melancholische Stimmung über diesem Ort hing. Doch Boris führte uns voller Begeisterung durch das kleine Tor hinein.
»Guck, das geht ganz leicht!« sagte er und lief zu dem Klettergerüst.
Eine Weile standen Sophie und ich in dem schwächer werdenden Licht und sahen zu, wie seine Gestalt höher und immer höher kletterte. Dann sagte sie leise:
»Eigentlich war das ganz komisch. Als ich mit diesem Herrn Mayer gesprochen habe und als er mir das Wohnzimmer von diesem Haus beschrieb, da kamen mir dauernd diese Bilder in den Sinn, von der Wohnung, in der wir damals lebten, als ich noch klein war. Die ganze Zeit, während er redete, kamen mir diese Bilder in den Sinn. Unser altes Wohnzimmer. Und Mutter und Papa, wie sie damals waren. Wahrscheinlich wird es überhaupt nicht so sein. Ich rechne nicht wirklich damit, daß es so aussieht. Ich fahre morgen hin und werde feststellen, daß es ganz anders ist. Aber es hat mir diese Zuversicht gegeben. Weißt du, so eine Art Omen.« Sie lachte leise auf, dann berührte sie mich an der Schulter. »Du siehst so mürrisch aus.«
»Wirklich? Tut mir leid. Das kommt von der ewigen Herumreiserei. Ich nehme an, ich bin einfach müde.«
Boris hatte die oberste Stange des Klettergerüsts erreicht, aber es war inzwischen so dunkel geworden, daß er kaum mehr als eine Silhouette vor dem Himmel war. Er rief zu uns hinunter, dann fing er an, da oben Purzelbäume zu schlagen.
»Er ist so stolz, daß er das kann«, sagte Sophie. Dann rief sie hinauf: »Es ist zu dunkel jetzt, Boris. Komm runter.«
»Es ist ganz leicht. Es ist leichter im Dunkeln.«
»Komm jetzt runter.«
»Es ist die ewige Herumreiserei«, sagte ich. »Ein Hotelzimmer nach dem anderen. Nie ein bekanntes Gesicht sehen. Das nimmt einen sehr mit. Sogar hier jetzt, in dieser Stadt, dieser ganze Druck, der auf einem lastet. Die Leute hier. Offenbar erwarten sie eine Menge von mir. Ich meine, es ist ganz offensichtlich...«
»Hör mal«, unterbrach mich Sophie sanft und legte mir eine Hand auf den Arm, »warum vergessen wir das alles nicht für eine Weile? Wir können später immer noch darüber reden, wir haben so viel Zeit. Wir sind alle müde. Komm mit zu uns in die Wohnung. Es ist nur ein paar Minuten zu Fuß von hier, gleich hinter der mittelalterlichen Kapelle. Ein ordentliches Abendessen, die Füße ein bißchen hochlegen, das wird uns guttun.«
Sie hatte leise gesprochen, den Mund dicht an meinem Ohr, so daß ich ihren Atem spüren konnte. Erneut überkam mich die Müdigkeit, und die Vorstellung, mich in der Wärme ihrer Wohnung entspannen zu können – mich vielleicht mit Boris auf dem Teppich herumzulümmeln, während Sophie uns Essen machte -, erschien mir auf einmal sehr verlockend. Und zwar so sehr, daß ich
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