Die Ungetroesteten
gemieteten Zimmer wohne. Anfangs fand ich das ziemlich schlimm, aber jetzt nicht mehr. Also schön, sie halten mich für einen Homosexuellen. Na und? Tatsache ist, daß sich meine Bedürfnisse nun mal am besten von Frauen befriedigen lassen. Du weißt schon, die Sorte Frauen, die man bezahlt. Genau das richtige für mich, und ein paar von denen sind wirklich hochanständig. Aber trotzdem fängt man nach einer Weile an, sie zu verachten. Da kann man nichts machen. Ich kenne die meisten Huren hier in der Stadt. Das heißt natürlich nicht, daß ich mit allen geschlafen habe. Ganz bestimmt nicht! Aber sie kennen mich, und ich kenne sie. Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen. Du glaubst vielleicht, ich führe ein ganz armseliges Leben. Tue ich gar nicht. Es ist eine Frage der Betrachtungsweise. Ab und zu kommen mich Freunde besuchen. Ich bin bestimmt in der Lage, mich bei einer Tasse Tee nett mit ihnen zu unterhalten. Ich mache das ganz gut, und hinterher sagen sie oft, wie nett es gewesen ist, mal bei mir hereinzuschauen.«
Die Straße war eine ganze Weile steil abgefallen, doch jetzt wurde sie eben, und wir befanden uns an einem Ort, der nach einem verlassenen Bauernhof aussah. Überall um uns herum im Mondlicht erhoben sich die dunklen Umrisse von Scheunen und Nebengebäuden. Sophie ging uns immer noch voran, aber inzwischen hatte sie wieder beträchtlichen Abstand zu uns gewonnen, und nur ab und zu sah ich ganz flüchtig ihre Gestalt, wenn sie um die Ecke irgendeines verfallenen Gebäudes bog.
Glücklicherweise schien sich Geoffrey Saunders hier gut auszukennen, und ohne lange nachdenken zu müssen, bahnte er sich seinen Weg durch die Dunkelheit. Während ich dicht hinter ihm herging, erinnerte ich mich an ein bestimmtes Ereignis aus unserer Schulzeit, an einen frischen Wintermorgen in England, der Himmel war bewölkt und der Boden frostbedeckt. Ich war vierzehn oder fünfzehn und stand mit Geoffrey Saunders vor irgendeinem Pub mitten in Worcestershire. Wir waren zu zweit als Richtungsweiser in einem Querfeldeinrennen dorthin geschickt worden, und unsere Aufgabe hatte ganz einfach darin bestanden, die Läufer, sobald sie aus dem Nebel auftauchten, in die vorgesehene Richtung über ein nahe gelegenes Feld zu schicken. Ich war an diesem Morgen ziemlich durcheinander, und nachdem wir ungefähr fünfzehn Minuten dort zusammen gestanden und schweigend in den Nebel gestarrt hatten, konnte ich mich einfach nicht länger beherrschen und brach in Tränen aus. Zu dem Zeitpunkt kannte ich Geoffrey Saunders nicht besonders gut, obwohl ich wie alle anderen auch immer ganz versessen darauf war, einen guten Eindruck auf ihn zu machen. Deshalb war ich zutiefst beschämt, und nachdem ich meinen Gefühlsausbruch endlich unter Kontrolle hatte, war mein erster Eindruck der, daß er voller Verachtung keinerlei Notiz von mir nahm. Doch dann fing Geoffrey Saunders an zu reden, anfangs, ohne in meine Richtung zu sehen, dann schließlich mir zugewandt. Es wollte mir jetzt nicht mehr einfallen, was er damals an diesem nebligen Morgen zu mir gesagt hatte, doch ich erinnerte mich nur allzugut an die Wirkung, die seine Worte auf mich gehabt hatten. Zunächst einmal war ich sogar in diesem Zustand des Selbstmitleids in der Lage gewesen, die beachtliche Großzügigkeit zu erkennen, die er mir gegenüber bewies, und ich hatte eine tiefe Dankbarkeit empfunden. Außerdem hatte ich in dem Augenblick einen deutlichen Kälteschauer verspürt, und mir war bewußt geworden, daß es an dem hoffnungsvollen jungen Talent der Schule eine unbekannte Seite gab – etwas tief Verwundbares, das verhindern würde, daß er die hohen Erwartungen erfüllte, die man in ihn gesetzt hatte. Während wir weiter zusammen durch die Dunkelheit gingen, versuchte ich noch einmal, mich an das zu erinnern, was er an dem Morgen zu mir gesagt hatte, aber es wollte mir nicht gelingen.
Da der Boden nun wieder eben war, schien Boris ein wenig zu Atem zu kommen, und er hatte wieder angefangen, vor sich hin zu murmeln. Vielleicht weil er sich durch die Gewißheit ermutigt fühlte, daß wir unser Ziel bald erreichen würden, fand er die Kraft, einem Stein, der auf seinem Weg lag, einen Stoß zu geben, und dabei rief er: »Nummer Neun!« Der Stein sprang über den rauhen Boden und landete irgendwo in der Dunkelheit im Wasser.
»Na, das ist doch schon viel besser«, sagte Geoffrey Saunders zu Boris. »Ist das deine Position? Die Nummer Neun?«
Als Boris nicht antwortete, sagte ich
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