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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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ganze Episode hatte eine überraschend heftige Wirkung auf mich gehabt, und ich war immer noch dabei, meinen Gefühlsaufruhr zu besänftigen, als Sophies Stimme irgendwo in meiner Nähe gesagt hatte:
    »Du hast keine Ahnung, was?«
    Ich hatte die Zeitung niedersinken lassen, überrascht von der Bitterkeit ihres Tons, und hatte sie im Zimmer stehen und mich anstarren sehen. Dann hatte sie gesagt:
    »Du hast keine Ahnung, was das für mich bedeutet, das mit ansehen zu müssen. Für dich wird das nie dasselbe sein. Guck dich doch nur an, wie du da in deiner Zeitung liest.« Dann hatte sie die Stimme gesenkt, wodurch sie ihr noch größere Wirkung verliehen hatte. »Das ist eben ein Unterschied! Er ist nicht dein eigen Fleisch und Blut. Sag, was du willst, aber das ist eben ein Unterschied. Du wirst ihm gegenüber nie die Gefühle haben, die ein richtiger Vater hätte. Guck dich doch nur an! Du hast ja keine Ahnung, wie schlimm das eben für mich war.«
    Damit hatte sie sich umgedreht und war hinausgegangen.
    Mein erster Gedanke war es gewesen, ihr in das Nebenzimmer zu folgen, ob da nun Besucher waren oder nicht, und sie wieder zurückzuholen, damit wir miteinander reden könnten. Doch schließlich hatte ich mich entschieden, hier auf sie zu warten. Tatsächlich war Sophie einige Minuten später wieder ins Zimmer gekommen, doch etwas an ihrer Art hatte mich davon abgehalten, sie anzusprechen, und sie war wieder hinausgegangen. Und obwohl Sophie während der nächsten halben Stunde mehrfach hereingekommen und wieder hinausgegangen war, hatte ich, trotz meines Entschlusses, mit ihr über meine Gefühle zu reden, kein Wort gesagt. Von einem gewissen Punkt an hatte ich schließlich begriffen, daß inzwischen jede Gelegenheit verstrichen war, das Thema, ohne daß ich lächerlich erschienen wäre, zur Sprache zu bringen, und mit der intensiven Empfindung, verletzt und enttäuscht zu sein, hatte ich mich wieder meiner Zeitung zugewandt.
    »Entschuldigen Sie«, hörte ich hinter mir eine Stimme sagen, und eine Hand berührte mich an der Schulter. Ich sah einen Mann in der Reihe hinter uns, der sich vorbeugte und mich prüfend betrachtete.
    »Sie sind doch Mr. Ryder, oder? Ja, tatsächlich, Sie sind es. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich habe hier die ganze Zeit hinter Ihnen gesessen und Sie in dem schwachen Licht nicht gleich erkannt. Ich bin Karl Pedersen. Ich hatte mich so darauf gefreut, Sie heute vormittag bei dem Empfang zu sehen. Aber natürlich waren Sie durch unvorhergesehene Umstände verhindert. Wie günstig, daß ich Sie jetzt hier treffe.«
    Der Mann hatte weißes Haar, ein freundliches Gesicht und trug eine Brille. Ich richtete mich leicht auf.
    »Ach ja, Mr. Pedersen. Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wie Sie ja selbst sagen, das war wirklich sehr bedauerlich heute vormittag. Auch ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, Sie, äh, Sie alle kennenzulernen.«
    »Wie es sich gerade so trifft, Mr. Ryder, sind auch einige andere Stadträte heute abend hier im Kino, und ihnen allen tut es ebenfalls sehr leid, Sie heute vormittag verpaßt zu haben.« Er sah sich im Dunkeln um. »Wenn ich nur ausmachen kann, wo sie alle sitzen, dann würde ich Sie gern hinüberbegleiten und Ihnen wenigstens ein oder zwei von ihnen vorstellen.« Er drehte sich und verrenkte sich den Hals, um die Reihen hinter sich abzusuchen. »Unglücklicherweise kann ich gerade im Moment keinen sehen...«
    »Natürlich würde es mich sehr freuen, Ihre Kollegen kennenzulernen. Aber es ist schon recht spät, und wenn sie sich doch bei dem Film amüsieren, sollten wir es vielleicht auf ein andermal verschieben. Es werden sich sicherlich noch zahlreiche Gelegenheiten ergeben.«
    »Ich kann gerade im Moment keinen sehen«, sagte der Mann und drehte sich wieder zu mir um. »Wie schade. Ich weiß, sie sind hier irgendwo im Kino. Na jedenfalls – darf ich Ihnen als Mitglied des Stadtrats sagen, welch große Freude und Ehre Ihr Besuch für uns alle ist.«
    »Danke, sehr freundlich.«
    »Mr. Brodsky hat nach allem, was man so hört, heute nachmittag im Konzertsaal beachtliche Fortschritte gemacht. Drei oder vier Stunden ununterbrochenes Proben.«
    »Ja, ich habe davon gehört. Wirklich wunderbar.«
    »Ach, sagen Sie, hatten Sie heute Gelegenheit, sich unseren Konzertsaal anzusehen?«
    »Den Konzertsaal? Also – nein. Leider bin ich nicht dazu gekommen...«
    »Natürlich nicht. Sie hatten ja eine so weite Reise hierher. Na ja, dazu ist ja immer

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