Die Ungetroesteten
Lage gebracht zu werden. O ja, ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Herr Christoff damals zu uns in die Stadt gekommen ist. Er war noch ein recht junger Mann damals, ganz allein, ohne große Ansprüche, regelrecht bescheiden. Wenn ihn niemand ermutigt hätte, dann hätte er sich ganz bestimmt damit zufriedengegeben, im Hintergrund zu bleiben, bei einer privaten Veranstaltung gelegentlich ein Konzert zu geben, und das wäre dann alles gewesen. Aber es hatte mit dem Zeitpunkt zu tun, Mr. Ryder. Der Zeitpunkt war sehr unglücklich. Gerade damals, als Herr Christoff bei uns in der Stadt auftauchte, erlebten wir gerade eine Art, nun ja, eine Art Bruch. Der Maler Bernd und der wirklich wunderbare Komponist Vollmöller, die so lange Zeit das kulturelle Leben hier gemeinsam angeführt hatten, sind beide innerhalb weniger Monate gestorben, und allgemein herrschte das Gefühl vor... nun ja, das Gefühl, daß wir aus dem Gleichgewicht geraten waren. Der Tod zweier solch hervorragender Männer hat uns alle mit großer Trauer erfüllt, aber ich glaube, es waren auch alle überzeugt davon, daß es jetzt Zeit für eine Veränderung war. Zeit für etwas Neues und Unverbrauchtes. Verständlicherweise hatte sich, nachdem wir alle so glücklich gewesen waren, diese beiden Herren so viele Jahre lang im Zentrum des Geschehens zu haben, ein gewisses Gefühl der Niedergeschlagenheit ausgebreitet. Als dann bekannt wurde, daß dieser Fremde, der bei Frau Roth wohnte, von Beruf Cellist war und sogar mit dem Gothenburger Symphonieorchester, noch dazu gelegentlich unter Kazimierz Studzinski, aufgetreten war, können Sie sich ja denken, daß es durchaus zu einiger Aufregung kam. Ich erinnere mich noch, daß ich seinerzeit persönlich sehr stark in Herrn Christoffs Begrüßung einbezogen war. Wissen Sie, ich weiß noch sehr gut, wie das damals war und wie anspruchslos er zunächst auftrat. Im nachhinein würde ich jetzt sagen, daß es ihm einfach an Selbstvertrauen gefehlt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er, bevor er zu uns kam, einige Niederlagen einstecken müssen. Aber wir machten viel Aufhebens um ihn, drängten ihn, zu allem seine Meinung zu äußern, ja, so hat das damals alles angefangen. Ich erinnere mich noch, daß ich selbst einer von denen gewesen bin, die ihn zu diesem ersten Konzert überredet haben. Er ging wirklich nur sehr zögernd darauf ein. Na jedenfalls sollte dieses erste Konzert ursprünglich nur in sehr kleinem Rahmen stattfinden, nämlich im Haus der Gräfin. Erst zwei Tage vor dem Ereignis, als offensichtlich wurde, wie viele Leute sich entschlossen hatten zu kommen, sah die Gräfin sich gezwungen, die Veranstaltung in die Galerie Holtmann zu verlegen. Von da an fanden Herrn Christoffs Konzerte – wir verlangten mindestens alle sechs Monate eines – immer im Konzertsaal statt, und jahraus, jahrein waren nun diese Konzerte unser wichtigster Gesprächsstoff. Aber anfangs hatte er sich wirklich nur sehr zögernd darauf eingelassen. Und das nicht nur bei diesem ersten Mal. Während der ersten paar Jahre haben wir ihn ständig überreden müssen. Lob, Beifall, Schmeichelei taten dann natürlich ihren Dienst, und von da an verbreitete sich Herr Christoff in der Öffentlichkeit gern über sich und das, was er dachte. ›Hier bin ich aufgeblüht‹, hörte man ihn damals sehr oft sagen. ›Seit ich hier lebe, bin ich richtig aufgeblüht.‹ Was ich damit sagen will, ist, daß wir es gewesen sind, die ihn in den Vordergrund geschoben haben. Inzwischen tut er mir wirklich leid – aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ich der einzige in der Stadt bin, dem es so geht. Wie Sie ja feststellen konnten, ist es seinetwegen zu beträchtlichem Ärger gekommen. Ich sehe die Situation ganz realistisch, Mr. Ryder. Wir müssen jetzt hart sein. Unsere Stadt steht am Rand einer Krise. Wohin man auch schaut, es gibt nur Unannehmlichkeiten. Irgendwo müssen wir ja anfangen, wieder Ordnung zu schaffen, also können wir genausogut gleich mittendrin anfangen. Wir müssen jetzt hart sein, und so leid er mir auch tut, sehe ich doch auch, daß es keine andere Möglichkeit gibt. Er und alles, was er inzwischen darstellt, müssen in eine dunkle Ecke unserer Geschichte geschoben werden.«
Obwohl ich immer noch leicht zu ihm hingebeugt dasaß und damit zeigte, daß ich ihm immer noch zuhörte, galt meine Aufmerksamkeit inzwischen wieder dem Film. Clint Eastwood sprach über ein Mikrofon mit seiner Frau auf der Erde, und Tränen strömten ihm
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