Die Ungetroesteten
über das Gesicht. Ich wußte, wir näherten uns der berühmten Szene, in der Yul Brynner den Raum betritt und Eastwoods Schnelligkeit mit der Waffe auf die Probe stellt, indem er vor ihm in die Hände klatscht.
»Entschuldigen Sie«, fragte ich, »aber wann ist Herr Christoff denn eigentlich in die Stadt gekommen?«
Ich hatte das gefragt, ohne groß nachzudenken, mindestens fünfzig Prozent meiner Aufmerksamkeit galten der Leinwand. Tatsächlich schaute ich die nächsten zwei oder drei Minuten weiter dem Film zu, bevor ich merkte, daß Pedersen hinter mir in tiefer Beschämung den Kopf hängen ließ.
»Sie haben vollkommen recht, Mr. Ryder. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie uns das vorhalten. Siebzehn Jahre und sieben Monate. Das ist eine lange Zeit. Einen Fehler wie den unseren hätte man überall machen können, aber dann so lange Zeit verstreichen lassen, ehe wir ihn wiedergutmachen? Mir ist klar, wie wir auf einen Außenstehenden, auf Sie zum Beispiel, wirken müssen, und ich bin tief beschämt, wenn ich das einmal sagen darf. Ich will gar keine Entschuldigungen suchen. Es hat eine Ewigkeit gedauert, ehe wir unseren Fehler eingestehen konnten. Bemerkt haben wir ihn natürlich schon eher. Aber ihn einzugestehen, auch vor uns selbst einzugestehen, war schwierig und hat sehr lange gedauert. Wissen Sie, bei uns hat sich wirklich alles um Herrn Christoff gedreht. Praktisch jeder Stadtrat hat ihn irgendwann einmal zu sich eingeladen. Bei den jährlichen Banketten der Stadt hatte man ihn immer neben Herrn von Winterstein gesetzt. Seine Fotografie hatte das Titelbild unseres Stadtalmanachs geziert. Er hatte die Einleitung zum Programm der Roggenkamp-Ausstellung geschrieben. Und das war noch längst nicht alles. Das ging noch viel weiter. Da war zum Beispiel diese unselige Geschichte mit Herrn Liebrich. Ach, entschuldigen Sie, ich glaube, ich sehe da hinten gerade Herrn Kollmann« – wieder verrenkte er sich den Hals, um in den hinteren Teil des Kinosaals sehen zu können – »ja, das ist Herr Kollmann, und wenn ich mich nicht irre, in diesem Licht sieht man ja kaum etwas, sitzt er mit Herrn Schaefer zusammen. Die beiden Herren waren heute vormittag auch auf dem Empfang, und ich weiß, sie würden sich außerordentlich freuen, Sie zu sehen. Was übrigens diese Angelegenheit betrifft, über die wir uns gerade unterhalten haben, so bin ich sicher, daß die beiden Herren dazu einiges zu sagen haben. Möchten Sie nicht hinübergehen und sie kennenlernen?«
»Es wäre mir eine Ehre. Aber Sie wollten mir doch gerade erzählen...«
»Ach ja, natürlich. Diese unselige Geschichte mit Herrn Liebrich. Als Herr Christoff zu uns kam, müssen Sie wissen, war Herr Liebrich schon seit vielen Jahren einer unserer angesehensten Geigenlehrer gewesen. Er unterrichtete die Kinder der vornehmsten Familien. Er wurde sehr verehrt. Dann bat man Herrn Christoff kurz nach seinem ersten Konzert um seine Meinung über Herrn Liebrich, und er gab zur Antwort, daß er von Herrn Liebrich ganz und gar nicht viel halte. Weder von seinem Spiel noch von seinen Unterrichtsmethoden. Vor einigen Jahren dann, als Herr Liebrich starb, hatte er praktisch alles verloren. Seine Schüler, seine Freunde, seinen Platz in der Gesellschaft. Und das ist nur eines von vielen Beispielen, das mir gerade in den Sinn kommt. Uns einzugestehen, daß wir wegen Herrn Christoff von Anfang an falsch gelegen haben – können Sie sich die Ungeheuerlichkeit dieser Erkenntnis vorstellen? Ja, wir sind schwach gewesen, das gebe ich zu. Aber dann war es auch so, daß wir überhaupt keine Ahnung hatten, daß sich alles zu solch einer Krise zuspitzen würde. Die Leute schienen im großen und ganzen immer noch zufrieden zu sein. Jahr um Jahr verging, und wenn einer von uns Zweifel hatte, dann behielt er sie für sich. Aber ich will unsere Nachlässigkeit gar nicht verteidigen, ganz bestimmt nicht. Und ich weiß sehr wohl, daß ich mir aufgrund meiner Stellung im Stadtrat damals genausoviel vorzuwerfen habe wie alle anderen. Schließlich, und das zuzugeben schäme ich mich besonders, schließlich waren es die Leute in dieser Stadt, die einfachen Leute, die uns zwangen, uns unserer Verantwortung zu stellen. Die einfachen Leute, deren Leben zu diesem Zeitpunkt immer erbärmlicher wurde, waren uns zumindest einen deutlichen Schritt voraus. Ich weiß noch genau, wann mir diese Tatsache zum erstenmal bewußt wurde. Es war vor drei Jahren, ich war auf dem Nachhauseweg nach Herrn
Weitere Kostenlose Bücher