Die Ungetroesteten
noch Zeit. Unser Konzertsaal wird Sie ganz bestimmt sehr beeindrucken, Mr. Ryder. Es ist wirklich ein prachtvolles altes Gebäude, und mag sich auch sonst etliches in dieser Stadt durch unsere Schuld zum Schlimmeren verändert haben, so kann uns doch niemand nachsagen, daß wir unseren Konzertsaal vernachlässigt haben. Ein wirklich prachtvolles altes Gebäude, und noch dazu in dieser herrlichen Umgebung. Das heißt mitten im Liebmann-Park. Sie werden ja bald sehen, was ich meine, Mr. Ryder. Ein angenehmer Spaziergang durch den Park mit seinen Bäumen, und dann kommen Sie zur Lichtung – und da! Der Konzertsaal! Sie werden es ja bald mit eigenen Augen sehen. Ein Ort, der wie geschaffen dazu ist, daß die Gemeinde sich dort versammelt, weit weg von den Straßen mit ihrer hektischen Betriebsamkeit. Ich weiß noch, in jenen Tagen, als ich ein kleiner Junge war, hatten wir ein städtisches Orchester, und an jedem ersten Sonntag im Monat versammelte sich die ganze Stadt vor dem Konzert auf dieser Lichtung. Ich sehe es noch vor mir, wie all die Familien eintrafen, alle fein angezogen, immer mehr Leute kamen durch den Park auf die Lichtung heraus und begrüßten einander. Und wir Kinder, wir sind immer überall herumgelaufen. Im Herbst hatten wir da ein Spiel, ein ganz besonderes Spiel. Wir flitzten umher und sammelten alles Laub auf, das wir fanden, brachten es zum Gartenhäuschen und häuften es an der einen Seite des Häuschens auf. Da war diese eine Latte, ungefähr in dieser Höhe, an der einen Seitenwand des Gartenhäuschens, und auf dieser Latte war ein Fleck. Wir haben dann immer so getan, als müßten wir soviel Laub wie möglich sammeln, und das alles bevor die Erwachsenen anfingen, in den Saal hineinzugehen. Schafften wir es nicht, dann würde die ganze Stadt explodieren und in eine Million Einzelteile zerbersten, oder irgend so etwas. Und da waren wir dann, liefen hin und her, das ganze feuchte Laub in den Armen! In meinem Alter wird man leicht sentimental, Mr. Ryder, aber es steht wohl außer Zweifel, daß dies einmal eine sehr glückliche Gemeinde gewesen ist. Es gab große glückliche Familien hier. Und wirklich dauerhafte Freundschaften. Voller Wärme und Zuneigung sind die Leute füreinander gewesen. Das ist hier wirklich einmal eine glückliche Gemeinde gewesen. Viele Jahre lang. Ich werde jetzt bald sechsundsiebzig, also ich kann mich persönlich dafür verbürgen.«
Pedersen schwieg einen Augenblick. Er blieb vornübergebeugt sitzen, den Arm auf der Rückenlehne meines Sitzes, und als ich zu ihm schaute, merkte ich, daß seine Augen nicht auf die Leinwand, sondern in ganz weite Ferne gerichtet waren. Inzwischen näherten wir uns der Stelle des Films, an der die Astronauten zum erstenmal einen Verdacht gegen den Computer H.A.L. hegen, der von zentraler Bedeutung ist für jeden Lebensbereich an Bord des Raumschiffes. Clint Eastwood mit seinen markanten Gesichtszügen und mit einer Flinte mit langem Lauf wandert klaustrophobisch wirkende Korridore entlang. Ich war gerade dabei, mich wieder in den Film zu versenken, als Pedersen erneut anfing zu sprechen.
»Ich will ganz ehrlich sein. So ein bißchen tut er mir leid. Herr Christoff, meine ich. Ja, auch wenn es Ihnen ein wenig merkwürdig vorkommt, er tut mir leid. Das habe ich auch zu einigen Kollegen gesagt, und die haben einfach gedacht, der Alte wird jetzt weich, wer kann denn auch nur einen Funken Mitleid mit diesem Scharlatan haben? Aber wissen Sie, ich habe einfach ein besseres Gedächtnis, was das alles betrifft. Ich erinnere mich noch, was damals passierte, als Herr Christoff zu uns in die Stadt kam. Natürlich habe ich mich über ihn genauso geärgert wie alle meine Kollegen. Aber sehen Sie, ich weiß sehr wohl, daß es damals am Anfang, gleich am Anfang, nicht Herr Christoff selbst gewesen ist, der sich vorgedrängt hat. Nein, nein, das... na ja, das waren wir . Das heißt, Leute wie ich, ich will es gar nicht leugnen, ich hatte ja eine sehr einflußreiche Stellung. Wir haben ihn ermutigt. Wir haben ihn gefeiert, ihm geschmeichelt, es ganz klar gemacht, daß wir Unterweisung und Initiative von ihm erwarteten. Zumindest ein Teil der Verantwortung für das, was geschehen ist, liegt bei uns. Meine jüngeren Kollegen haben das in diesen Anfangsjahren nicht so mitbekommen. Sie kannten Herrn Christoff nur als diese dominierende Persönlichkeit, die immer im Mittelpunkt stand. Sie haben ganz vergessen, daß er nie darum gebeten hatte, in solch eine
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