Die unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra (German Edition)
ist. Die prächtige Treppe in der Mitte der Lobby wird flankiert von blassen Wandgemälden mit leeren Ozeanflächen und Wolkenfetzen am oberen Bildrand. Sie haben eine ziemlich deprimierende Wirkung, denkt Penumbra.
Er ist schon einmal hier gewesen, und er hat das Gebäude nach einem ganzen Tag erfolgloser Nachforschungen übellaunig wieder verlassen. Damals hat er nach Geburtsurkunden, Kaufverträgen und Gerichtsprotokollen gesucht – die Quellen, die man konsultiert, wenn man einen Geschäftsmann ausfindig machen will. Heute Morgen sucht er nach einem Schiff mit Straße und Hausnummer.
Er geht in den engen Kartenraum, der fast vollkommen von hohen braunen Aktenschränken mit breiten, flachen Schubladen ausgefüllt ist. Die Bibliothekarin, eine Frau in einem Blumenkleid, sitzt vorgebeugt an ihrem Tisch und liest Portnoys Beschwerden .
»Ich würde mir gerne alle Karten von San Francisco aus den Jahren 1849 bis 1861 anschauen«, erklärt Penumbra.
Sie hebt erschrocken den Kopf. »Sie wollen … alle?«
Er will alle.
Er hat noch keine Zugfahrkarte nach Hause gekauft.
DIE GABE
E r stürzt noch vor Mittag in die Buchhandlung. Die nächtliche Meute ist noch nicht eingetroffen. Ein Touristenpär chen stöbert auf dem W HOLE - E ARTH -Tisch, unterhält sich leise auf Deutsch und zeigt zu den hohen Regalen hinauf.
Penumbra stützt sich mit den Händen auf dem breiten Schreibtisch auf. Er ist außer Atem. Seine Wangen sind gerötet, sein Hemd hängt halb aus der Hose. Er ist den ganzen Weg von der Bibliothek gerannt. Corvina betrachtet ihn mit gehobenen Augenbrauen und der Andeutung eines Lächelns. »Willkommen zu Hause.«
»Ich … puh! Meine Güte.« Er atmet tief durch. »Ich habe eine Karte!«
Penumbra breitet seinen Schatz aus. Er zeigt eine Stadt mit zwei Küstenlinien. Eine, die moderne Küste, ist eine glatte Linie. Die andere, ältere, ist eine mäandernde, gepunktete Linie. Die alte Küste frisst sich tief in die Innenstadt ein und überflutet ganze Viertel. Die gepunktete Linie ist gespickt mit akkurat eingezeichneten Nummern, und in der Ecke der Karte befindet sich eine umfangreiche Zeichenerklärung, die jeder Nummer einen Namen zuweist: Cadmus, Canonicus, Euphemia … die Martha Watson, die Thomas Bennett, die Philip Hone … und da, entlang des schrägen Einschnitts der Market Street, schmiegt sich die Nummer 43, die William Gray, an die gepunktete Küste.
Corvina schaut von der Karte zu Penumbra, von Penumbra zur Karte und wieder zurück. »Die hast du ausgegraben?«
»War ganz einfach, als ich wusste … puh … wo ich suchen musste. Und warum ich da suchen musste.« Penumbra fährt mit dem Finger die Market Street entlang. »Da verläuft der BART -Tunnel. Die graben genau an dem Schiff vorbei, Marcus.«
Corvina nickt einmal. »Zeig das Mo.«
Im hinteren Teil des Ladens gibt es drei Türen. Die erste ist angelehnt, durch den Spalt sieht Penumbra die Überreste eines kleinen Pausenraums: einen Tisch, zwei Stühle, eine Lunchbox. Die nächste Tür ist verschlossen. Zwei kleine Messingbuchstaben identifizieren den Raum dahinter als das WC . Darunter klebt ein Zettel, auf dem mit schartigen Großbuchstaben die Worte NUR FÜR ZAHLENDE KUNDSCHAFT gekritzelt sind. Schließlich die dritte Tür, die ebenfalls mit zwei Messingbuchstaben gekennzeichnet ist – aber die lauten MO .
Die Tür steht offen, und dahinter verliert sich eine steil aufragende Treppe im Dunkeln. Penumbra steckt den Kopf durch die Tür und ruft: »Hallo?« Keine Antwort. Er steigt die Treppe hinauf. Von oben weht ihm ein würziger Duft entgegen und kitzelt in seiner Nase.
Am Ende der Treppe steht er vor einem riesigen Raum, dessen Wände mit Teppichen verkleidet sind. Sie sind alle mit dichten Stickereien verziert, manche durchziehen me tallische Fäden, die in dem schwachen, goldenen Licht leuch ten. Die Wandteppiche zeigen Tänzer in spitzen Schuhen, Musiker mit geschwungenen Hörnern, Schreiber mit Federkielen, so groß wie sie selbst. Wenn der Raum Fenster hat, dann sind sie alle mit den Teppichen verhängt. Penumbras Schritte machen ein leises dumpfes Geräusch. Der Stoff dämpft den Schall und verleiht dem Raum eine gespenstische Aura – als würde er einen aufsaugen, als befände er sich einen Schritt außerhalb von Zeit und Raum.
»Mr. Al-Asmari?«, sagt Penumbra zaghaft.
In der Mitte des Raums steht ein wuchtiger Schreibtisch, das Zwillingsstück zu dem unten. Auf dem Schreibtisch steht eine Lampe, deren
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