Die Unseligen: Thriller (German Edition)
geradezu.
Obwohl er überzeugter Marxist war, lehnte er jede Form von Gewalt ab. Bis zu einem gewissen Punkt. War der schmale Grat zwischen dem, was gerade noch moralisch vertretbar war, und der Barbarei überschritten, waren Waffen in seinen Augen die einzige mögliche Reaktion. Und eine AK -47 hatte immer eine stärkere Wirkung als ein Rosenkranz.
Er zündete die kalte Asche seiner Zigarre noch einmal an. Er war nach Afrika gekommen, um der Kirche und der sozialistischen Revolution gleichermaßen zu dienen. Er war rundum gescheitert. Die Macht des Islam wuchs, und das kommunistische System war auf Erden eine Utopie. Hugo Chávez in Venezuela und Fidel Castro auf Kuba hielten die Illusion aufrecht, es sei noch möglich, gegen den Kapitalismus zu kämpfen, aber es blieb eine Illusion.
Eingelullt von den Geräuschen, die aus dem Schlafsaal unter seinen Füßen aufstiegen, dachte Pater David über seine Misserfolge nach und fragte sich, ob die kommunistischen Priester, die in Lateinamerika Gottesdienste feierten, wohl auch den Eindruck hatten, dieses neue Jahrtausend markiere das Ende der Ideale.
»Pater?«
Die dünne Stimme vor der Tür seines Schlafzimmers riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ja? Herein.«
Ein Jugendlicher schob den Kopf durch den Türspalt und hielt Ausschau nach der von der Dunkelheit eingehüllten Gestalt von Pater David.
»Guten Abend, Georges«, sagte der Priester.
»Pater, jemand fragt nach Ihnen.« Der junge Nigerianer wirkte ein wenig verlegen. »Eine Frau … «, fügte er hinzu.
»Eine Frau?«
»Sie sagt, dass sie Sie kennt und dass sie Ihnen etwas Wichtiges sagen müsste.«
»Etwas Wichtiges, was soll das sein, Georges?«
»Ich weiß es nicht. Sie will nur mit Ihnen sprechen.«
Pater David warf einen Blick zum Fenster, und seine Miene verdüsterte sich. Wenn sich jemand die Mühe machte, bei dieser Sintflut hierherzukommen, bedeutete das, es ging um einen Notfall. Er fühlte sich zu erschöpft, um sich jetzt noch mit einem größeren Problem zu befassen. Er flehte darum, dass es nur jemand war, der für die Nacht Unterschlupf suchte.
»Sag ihr, dass ich komme.«
2
Die Frau stand unter dem Vordach aus Wellblech. Sie war in eine blaugrüne Tunika gehüllt und drückte ein Bündel an ihre Brust. Sie zupfte nervös an den Zipfeln des Gesichtsschleiers, der ihre Schultern und Haare bedeckte. Der Stoff klebte an ihrer Haut und ließ einen hageren, von Hunger, Drogen oder Krankheit ausgezehrten Körper erkennen.
Den Priester überfiel ein Gefühl der Vertrautheit, er verspürte eine plötzliche Hitzewelle, die sich legte, als er das Gesicht der Besucherin sah. Sie musste zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt sein, aber ihr Gesicht war gezeichnet, so eingefallen wie das einer alten Frau. Er vermutete, dass HIV oder eine andere verdammte Krankheit der gleichen Sorte ihre Immunabwehrkräfte schleichend schwächte, was bereits ihr äußeres Erscheinungsbild veränderte.
»Guten Abend, ich bin Pater David … «
Sie blickte langsam zu ihm auf, als sich ihre Blicke trafen, wich er zurück. Es war eine unwillkürliche Reaktion, so abrupt wie die Hitzewelle in seinem Bauch, sein Körper reagierte unabhängig von seinem Geist auf die Anwesenheit dieser Frau. Er fing sich wieder und räusperte sich.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Über dem Dschungel leuchtete ein heller Blitz auf, ehe eine Sekunde später das ohrenbetäubende Grollen des Donners zu hören war. Das Bündel, das die Frau an ihre Brust drückte, wand sich und stieß eine Art Röcheln aus, das der Priester mühelos einordnen konnte. Es durchzuckte ihn kalt, als er die Gründe erriet, die diese Mutter dazu veranlasst hatten, den Unbilden des Wetters zu trotzen.
Das Waisenhaus der Petits Frères du Peuple beherbergte zweihundert Kinder, darunter fast fünfzig Säuglinge. Seit seiner Ernennung zum Direktor musste Pater David mit dem stetigen Zustrom neuer Waisen klarkommen.
Aufgrund der Hungersnöte im Norden des Landes und der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen verließen die Bauern ihre Felder und versuchten ihr Glück in Lagos oder Port Harcourt. Sie tauschten ein Elend gegen ein anderes ein. Und wie immer mussten es die Kinder ausbaden. Malaria, Cholera-Epidemien, Ruhr, Vergiftung, Unterernährung: Die Kindersterblichkeit in der Region lag bei über dreißig Prozent.
Die Frau hatte noch kein Wort gesagt, und der Priester fragte sich, ob sie Englisch sprach. Er beugte den Kopf und setzte
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