Die Unseligen: Thriller (German Edition)
gelangt waren.
Alles war so schnell, so leicht gegangen, dass er beim Aufwachen fest davon überzeugt gewesen war, eine Prostituierte aufgegabelt zu haben. Aus seiner Überzeugung war eiskalte Angst geworden, als ihm bewusst geworden war, dass keine Kondomverpackung auf dem abgewetzten Teppichboden lag. Die Tatsache, dass er in diesem Punkt gegen keine päpstliche Vorschrift verstoßen hatte, hatte ihm keine Erleichterung verschafft.
Als Pater David sie so schwach, so kümmerlich sah, spürte er, wie das Adrenalin, brennend wie Ätznatron, durch seine Adern schoss. Bei dem Gedanken, dieses Phantom eines kurzen sexuellen Abenteuers, das er zu vergessen suchte, könnte mit HIV infiziert sein, drehte sich ihm der Magen um. Und eine Sekunde lang schien es ihm, als wäre er in einem grotesken Traum gefangen, in welchem Gott in Gestalt dieser Frau beschloss, ihn für seine Verfehlungen zu bestrafen oder sich auf seine Kosten zu amüsieren, indem er ihm mitteilte, dass er sich wahrscheinlich mit Aids infiziert hatte.
»Es ist lange her … «, brachte er endlich hervor.
Sie antwortete nicht – aber sie zitterte jedes Mal, wenn der Regen und die Sturmböen ihren Rücken peitschten. Der Säugling in ihren Armen weinte leise, doch sein Schluchzen wurde überdeckt von den tausend Geräuschen des Unwetters.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich … «
Er verstummte, rang nach Worten. Die Situation erschien ihm so absurd, dass ein Teil von ihm die Möglichkeit nicht ausschloss, dass diese ganze Szene nur ein Traum war, ein Trugbild, genährt von nachhallenden Schuldgefühlen.
»Ich weiß nicht, wieso Sie hier sind … und auch nicht, was ich für Sie tun kann … «
»Das ist deine Tochter«, sagte sie ebenso abrupt, wie wenn sie von einer Brücke hätte springen müssen.
3
Pater David starrte entgeistert die Frau an, die gerade, ohne Umschweife, das Undenkbare behauptet hatte.
Eine seltsame Anziehungskraft ließ seinen Blick langsam über ihre Brust und ihre spindeldürren Arme gleiten, wo er dem des Kindes begegnete.
Ihm schnürte sich die Kehle zu.
Die tiefschwarzen Augen hielten ihn gefangen. Er fühlte sich hilflos und war zugleich erschrocken.
Er hatte so viel Blut fließen sehen, dass es ausreichen würde, um für alle Zeiten sämtliche Flüsse Afrikas rot zu färben, er hatte gesehen, wie Macheten Köpfe spalteten, als wären es gewöhnliche Melonen, er hatte gesehen, wie mit Benzin übergossene Frauen und Kinder bei lebendigem Leib verbrannt wurden, und er hatte in sich immer den Mut gefunden, sich seinen Ängsten zu stellen und sie zu überwinden. Vielleicht hatte ihn sein Glaube davor bewahrt, wahnsinnig zu werden, vielleicht auch die unerschütterliche Überzeugung, dass ein Mensch böse wird, weil er leidet. Aber weder der Glaube noch die Überzeugung halfen ihm, die entsetzliche Angst, die ihm dieses Kind einflößte, zum Verstummen zu bringen.
»Meine Tochter … «, wiederholte er.
»Sie heißt Naïs.«
»Das kann nicht sein«, flüsterte er zu sich selbst. »Sie lügen … Und selbst wenn Sie ein … « Das Wort wollte ihm nicht über die Lippen kommen. »… ein Kind von mir gehabt hätten … dieses Mädchen ist zu jung, viel zu jung.«
Mit einer erregten Geste wischte sie den Einwand beiseite.
»Ob du mir glaubst oder nicht, das hat keine Bedeutung.«
»Was wollen Sie dann?«
Sie warf einen Blick hinter sich, Richtung Dschungel und Straße, und als sie das Knattern eines Motors hörte, näherte sie sich dem Priester. Sie wartete, bis die Rücklichter der alten Schrottkiste, die im Slalom um die Pfützen fuhr, in der Finsternis verschwunden waren.
»Ich will, dass du sie hier behältst«, sagte sie ein wenig leiser, »ich will, dass du sie beschützt … «
»Wovor soll ich sie beschützen?«
»Sie haben versucht, sie umzubringen … « Wieder suchte sie mit den Augen die Straße ab. »Sie glauben, wenn sie sie töten, würde ihre Macht auf sie übergehen. Sie wollen ihre magische Kraft, verstehst du? Deshalb musst du sie bei dir behalten.«
Der Priester empfand eine jähe Erleichterung, die genauso stark war wie der Schreck, der sich vorhin seiner bemächtigt hatte.
»Wie lang sind Sie schon krank?«, fragte er sanft.
»Warum willst du das wissen?«, stieß sie hervor, auf Abwehr eingestellt. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr? Du glaubst, das alles wäre nur da drin, wie?« Mit dem Finger tippte sie an die Schläfe.
»Ja … «
»Ich bin nicht verrückt.«
Pater
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