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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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David legte mitfühlend eine Hand auf ihre Schulter. Er hatte einige Monate lang in einer psychiatrischen Klinik im Nordosten Kameruns gearbeitet und festgestellt, dass eine Geisteskrankheit nicht nach den gleichen Kriterien wie in Europa diagnostiziert wurde. Er hatte gesehen, wie Ärzte einen Mann, unter dem Vorwand, er sei der Hexer des Dorfes, freigelassen hatten. Der Mann war überzeugt gewesen, die Geister der Toten hätten ihn dazu gezwungen, seiner Ehefrau und seinen drei Brüdern die Kehle durchzuschneiden. Jeder westliche Psychiater hätte die Symptome einer schweren Paranoia erkannt und ihn in eine Gummizelle gesteckt.
    »Warum sollte es jemand auf Ihre Tochter abgesehen haben?«
    »Sie besitzt besondere Kräfte«, sagte sie zitternd. »Und sie wollen sie umbringen, um sie ihr zu rauben.«
    »Was für Kräfte?«, fragte er, während er das Puppengesicht des Mädchens betrachtete.
    »Behalte sie bei dir, und du wirst es selbst sehen.«
    Der Priester machte eine müde Handbewegung.
    » Wer will sie töten?«
    »Das hat in Lagos begonnen, zuerst waren es die Leute aus meinem Viertel. Sie haben heimlich über sie gesprochen und sogar ein zandji für sie veranstaltet … «
    Pater David seufzte. Es war ihm nie gelungen, an einem zandji teilzunehmen. Nur die Eingeweihten durften diesen Ritualen der schwarzen Magie beiwohnen. Doch er kannte den unheilvollen Einfluss dieser Versammlung sogenannter Hexer auf die schlichten Gemüter. Die jüngste Strafgefangene in Nigeria war ein perfektes Beispiel dafür. Dieses dreizehnjährige Mädchen namens Haussa hatte nicht weniger als einundfünfzig Giftmorde gestanden.
    »Ich bin geflohen«, fuhr die Mutter fort, während sie die Wange ihrer Tochter streichelte, »ich habe Lagos verlassen und sie mit zu meinen Eltern genommen, in ein Dorf in der Nähe von Port Harcourt … Aber dort hat es wieder angefangen. Ich wollte sie in der Pfingstkirche taufen lassen, aber der Pastor … der Pastor hat gesagt, sie sei eine Hexe, und du weißt, was sie mit Hexen machen, oder?«
    »Ja, ich weiß es«, antwortete der Priester mit ernster Miene.
    Als Reaktion auf den wachsenden Einfluss des Islam im Norden des Landes waren im Süden so viele christliche Kirchen und Gemeinschaften aus dem Boden geschossen, dass sie heute zahlreicher waren als Banken und Krankenhäuser zusammengenommen. Die meisten Pastoren gehörten Splittergruppen der offiziellen Kirchen an und lieferten sich einen erbitterten Wettstreit um neue Mitglieder. Ein Kind als Hexe zu »überführen«, war für sie ein sicheres Mittel, um neue Anhänger zu gewinnen, konnten sie damit doch zeigen, dass sie über eine spirituelle Kraft verfügten, die sie in die Lage versetzte, Hexerei zu erkennen. Ihre Opfer suchten sie sich unter Waisen- und Straßenkindern, Behinderten oder bei den ärmsten Familien. Und die Exorzismusrituale waren nichts anderes als Akte reiner Barbarei, wie das Beispiel jenes fünfjährigen Jungen zeigte, der zu Beginn des Jahres von seinem Vater und dem Pastor dazu gezwungen worden war, drei Liter Säure zu trinken.
    Das Waisenhaus der Petit Frères du Peuple hatte Dutzende dieser »Kinderhexer« aufgenommen. Aber das reichte bei Weitem nicht aus. Die letzten Daten, die UNICEF Pater David übermittelt hatte, wiesen allein für die Regionen Akwa Ibom und Rivers über einen Zeitraum von zehn Jahren fünfzehntausend Opfer solcher Anschuldigungen und tausend Ermordete nach.
    »Sieh her, was sie ihr angetan haben … «
    Sie löste das Tuch, in welches das Mädchen gewickelt war, und das Herz des Missionars krampfte sich zusammen, als er die rituellen Male um ihren Nabel entdeckte. Die Narben hatten die Form eines heidnischen Symbols. Er glaubte, ein Anch-Kreuz zu erkennen.
    »Meine Brüder haben ihr das angetan«, fuhr sie fort, während sie mit den Fingerspitzen über die Verbrennungen strich. »Der Pastor hat es ihnen befohlen, sonst wäre Gott wütend auf sie und ihre Familien.« Sie unterdrückte einen Seufzer, und der wimmernde Laut, der sich ihrer Kehle entrang, hatte etwas Ergreifendes. »Er hat gesagt, dass Naïs verflucht ist.«
    Pater David fragte sich, wie man einem Kind solches Leid zufügen konnte. Er korrigierte sich: jedem beliebigen Menschen. Er atmete tief ein und betrachtete die grün-bronzene Dunkelheit über dem Gelände des Waisenhauses.
    »Ich bin wieder geflohen. Ich bin ins Krankenhaus gegangen, damit die Ärzte sie behandeln, und dort habe ich das hier gefunden … «
    Sie durchsuchte

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