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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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vollkommen verwaist daliegt. Nicht einmal einer dieser kernigen, gegen jedes Wetter gefeiten Arbeiter ist mehr zu sehen. Die haben allesamt Feierabend, und nicht ein einziger von ihnen hat Interesse an einer Nachtschicht der besonderen Art. Dabei bin ich unter diesen Umständen sogar bereit, für den verrichteten Dienst zu bezahlen, denke ich mir verzweifelt und fühle mich endgültig ganz unten angekommen.
    Ich absolviere noch einen letzten Rundgang – ein Nachtwächter auf der Suche nach einer guten, sättigenden Portion Ärger –, dann gestehe ich mir endlich die Zwecklosigkeit meines Handelns ein.
    »Scheiße!«, denke ich und sage es auch laut.
    Dem Wort folgt noch nicht einmal das leiseste Echo. Ich bin mutterseelenallein hier draußen, in dieser Unwirtlichkeit.
    »Scheiße!«
    Doch die Dunkelheit über den Dächern und zwischen den Dingen antwortet wieder nicht. Ich würde mich ja gerne über meinen Fehlschlag freuen, aber ich kann es einfach nicht. Die Einsamkeit sitzt mir als eisiger Klumpen im Magen und verursacht Übelkeit. Mir bleibt nur, nach Hause zurückzukehren, mich dort hinter Licht- und Lärmquellen, Lampen, Radio und Fernseher, zu verschanzen und weder die Stille noch das Alleinsein an mich herankommen zu lassen. Ein schier aussichtsloses Unterfangen, bedenke ich meinen Hang zur Kapitulation, zur Hasenfüßigkeit. Und doch habe ich keine andere Wahl.
    Ich kehre zurück ins Quedens-Haus, so langsam und auf so vielen Umwegen wie möglich, um den Moment der mich wie eine bittere Pille schluckenden Stille so lange wie möglich hinauszuzögern. Das Quedens-Haus, dieses Horrorhaus, dessen Hoffnung trog, das nicht hielt, was ich mir davon versprach. Es ist ja auch nur eine Mogelpackung, denn seinen alten Namen Quedens trägt es längst schon zu unrecht. Wenn es gerecht auf der Welt zugehen würde, müsste es eigentlich inzwischen Brandstätter-Haus heißen, denn schließlich war es Klaus, der es vor Verfall und Abriss gerettet, der ihm neues Leben eingehaucht hat. Es wäre die verdiente Anerkennung für seine Leistung, und geschähe es auch nur als Würdigung seines finanziellen Engagements. Aber das Leben ist ja nicht fair, man bekommt nie, was einem zusteht. Klaus hat man immerhin die Ehrenbürgerwürde des Ortes angetragen, Kunststück, er ist ja auch der mit Abstand größte Spender des Heimatmuseums und anderer kultureller Einrichtungen der Insel. Darüber hat er sich sehr gefreut, wie ein kleiner Schneekönig, und meine Einwände, das sei nur eine Auszeichnung seines Geldes, nicht seiner Person, einfach so vom Tisch gewischt. Mir dagegen bleibt hier nur das Jammern, mir bietet sich nichts, worüber ich mich freuen könnte.
    Normalerweise beneide ich Klaus nicht um das, was er hat, seine Ausgeglichenheit, seine Beharrlichkeit, seine Zielorientiertheit, seine Fähigkeit, sich auch über die kleinsten Dinge aufrichtig zu freuen, seine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, ja nicht einmal um seinen gesellschaftlichen Stand und sein familiäres Erbe. Ich denke sogar, das ist der wesentliche Grund, warum es überhaupt mit uns funktionieren konnte. Ich habe ihn bewundert für das, was er war und ist, hatte und hat, und er mich ebenso. Neid hätte bedeutet, der eine hätte sich dem anderen unterlegen gefühlt, und eine darauf aufgebaute Partnerschaft hat niemals eine Zukunft. Neid war nicht nötig zwischen uns, wir hatten unsere wunderbar kitschige Liebe, die jedem Unterschied zwischen uns, allem voran dem Altersunterschied, das Bedrohliche nahm und in etwas Faszinierendes, Spannendes verwandelte. Und selbst heute ist davon, sowohl von der Liebe als auch von der gegenseitigen Bewunderung, zwischen uns noch etwas zu spüren, wenn wir uns treffen. Selbst dann ist für Neid zwischen uns kein Platz. Aber jetzt ist Klaus irgendwo in Hamburg, genießt seinen Abend in erlesener Gesellschaft oder liest im Kaminzimmer seiner Villa irgendeinen Klassiker der Weltliteratur, Balzac im Original vielleicht, den er über die Maßen vergöttert, und ist zufrieden, während ich hier draußen auf dieser einsamen Insel durch die Dunkelheit irre und mir den Arsch abfriere. Ihm würde so etwas Dummes niemals passieren, und darum beneide ich ihn dann doch. Was gäbe ich nicht dafür, jetzt bei ihm zu sein, so wie früher.
    Stattdessen taucht vor mir aus der schummrigen Nacht das Quedens-Haus auf, zum zweiten Mal heute. Zuerst sehe ich nur den Walkieferknochentorbogen und den Walbeinjägerzaun, sie leuchten wie Schimmel im Zwielicht

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