Die unsicherste aller Tageszeiten
Optik gefiel, anstatt besser auf seine Eigenschaften zu achten. Zu erleichtert bin ich, aus dem Haus raus zu sein. Außerdem ist das die einzige Unannehmlichkeit, die mir vorläufig begegnet. Dank der Herbstferien herrscht auf Föhr nämlich noch einmal Hauptsaison, und deshalb finde ich hier, das strikte deutsche Ladenschlussgesetz hin oder her, auch an einem Samstagabend nach achtzehn Uhr noch einen offenen Supermarkt. In dem kaum was los ist. Das Personal langweilt sich dem Feierabend entgegen, aus den Lautsprechern dringt Dudelmusik, die erst recht schläfrig macht. Ich kaufe eine Flasche Mineralwasser, ein paar Dosen Cola, zwei Flaschen Rotwein, ein Paket Butter, Toastbrot und ein Glas Nutella. Dann gehe ich, nachdem ich schon wieder rund hundert Meter Richtung Heimat zurückgelegt habe, noch einmal zurück und kaufe auch noch eine Zahnbürste, die ich schon wieder vergessen habe. Und nicht einmal das, meine eigene Vergesslichkeit, bringt mich in Rage. Ich atme einfach nur tief ein und aus und genieße die salzige, regenreiche Luft. Zurück in der Kate stelle ich alles auf die Ablage in der Küche, räume nicht einmal die Butter in den Kühlschrank, sondern beschließe, sogleich wieder auszugehen und einen Happen zu essen. Diesmal lösche ich fast alle Lichter, nur eine Lampe, in einem der Stubenfenster stehend, lasse ich an, und schon bin ich wieder unterwegs. Und wieder fülle ich meine Lungen mit dem reinen Inselsauerstoff, so als hätte ich, während ich kurz im Haus war, nicht einen einzigen Atemzug getan.
Ich gehe in das beste Restaurant am Platz. Dort kennt man mich, dort gibt man mir sofort einen Tisch, auch trotz meines leicht verwahrlosten Äußeren. Zuerst war ich »Herr Brandstätters Begleiter«, dann sein Partner, Freund und heute bin ich »der berühmte Künstler, der mal mit Herrn Brandstätter zusammen war«. Damit kann ich leben. Mit dem Tisch in einer der hinteren Nischen des Gastraumes sowieso, denn hier können mich die anderen Gäste kaum sehen, während ich sie sehr gut beobachten kann. So mag ich es am liebsten, auch wenn der Anblick der übrigen Speisenden alles andere als ein Augenschmaus ist. Sie haben zwar merklich versucht, sich in Schale zu werfen, die Frauen sich selbst und ihre Männer gleich noch dazu, und trotzdem sehen sie alle so aus, als hätten sie sich während eines Stromausfalls bei Humana eingekleidet. Eigentlich sehen sie allesamt abstoßend aus, aber gerade das reizt mich wohl an ihnen. Ich beobachte alle Menschen um mich herum gerne und fast schon zwanghaft, auch wenn Klaus mich mehr als einmal darauf hingewiesen hat, dass ich die Leute eher niederstarre, als sie tatsächlich nur anzublicken, und zwar selbst dann noch, wenn sie mich längst bemerkt haben und sich schon ganz unruhig auf ihren Stühlen winden. »Du guckst, als würdest du sie mit der schieren Kraft deines Blickes in die Flucht schlagen wollen«, flüsterte er mir bei unserem ersten gemeinsamen Restaurantbesuch zu. Er tat dies mit einem ausgesucht freundlich-unverbindlichen Lächeln, das wohl für uns beide die Etikette wahren sollte. Da ich nicht will, dass auch er sich unwohl fühlt, bemühe ich mich bis heute in seiner Gegenwart darum, mich nicht ganz so flegelhaft zu benehmen.
Es ist – natürlich – ein Fischrestaurant. Ich ordere also ein Steak vom Thunfisch mit Salzkartoffeln, irgendeinem gedünsteten Gemüse als weiterer Beilage und irgendeiner hellen Soße, Weißwein oder Pfeffer. Die Geschmacksknospen auf meiner Zunge sind vom Saufen, Rauchen, Scheißefressen und Kotzen der letzten immer noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden total verödet, sie sind kaum fähig, irgendetwas zu schmecken, nur den Unterschied von heiß und kalt kriegen sie noch mit. Ich esse das Gericht nur, weil ich inzwischen echten Hunger habe, aber ich esse völlig mechanisch, gönne den Bissen, die in meinen Mund wandern, keinen Abschiedsblick, denn meine Augen wandern die ganze Zeit über unruhig durch das standesgemäß maritim dekorierte Lokal. Leider finden sie keinen einzigen Mann, der es wert wäre, mich erobern zu dürfen. Nur dicke alte Säcke sitzen sich hier ihre fetten Hintern platt zusammen mit ihren im Alter eingeschrumpelten oder aufgequollenen Eheweibern, die mit ihren abgespreizten Fingerchen und geziertem Gehabe feiner tun, als sie in Wirklichkeit sind. Oder Familienväter, denen das Familienleben allen Lebenssaft ausgesaugt hat. Nicht einmal auf das Personal in diesem Laden ist Verlass, denn das
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