Das böse Spiel der Natalie Hargrove (German Edition)
1 Etwas Böses kommt daher
Es war die wichtigste Woche meines Lebens. Ich stand etwa zehn Minuten vor dem Läuten an der Toilettentür der Zehntklässlerinnen und übte mich in einer meiner Lieblingsfähigkeiten. Ach, lauschen ist so ein hässliches Wort! Besonders wenn es so gut aussieht. Man muss schon zugeben: zur Ablenkung das Telefon in der Hand und mein cooler, konzentrierter Gesichtsausdruck – ich habe alle davon überzeugt, dass ich nichts anderes tue, als eine sexy SMS von Mike zu lesen oder noch mal die Partydetails für Rex Freemans Mardi-Gras-Sause am Wochenende abzufragen. Oder?
Aber wann waren die Dinge an der Palmetto High je so, wie sie schienen? Absolut jeder wusste, dass die Zehntklässlerinnen – alias die Bambis – die Spielzeuge der Zwölftklässler waren. Die wenigen mit Gehirn Gesegneten an dieser Schule hatten mittlerweile herausgefunden, dass die morgendliche Schminksession der Bambis ein perfekter Lauschort war. Bambi-Klo-Horchen war eine reine Vorsichtsmaßnahme, damit man auf dem Laufenden blieb.
Durch die Tür konnte ich über den grollenden Donner des Gewitters, das sich draußen zusammenbraute, eine von ihnen jammern hören: »Könnten wir mal darüber sprechen, wie unfair es ist, dass das Wetter so schlecht ist?«
Der Februar war in Charleston besonders unberechenbar. Den ganzen Morgen lang hatten die schwarzen Wolken tief am Himmel gehangen und drohten jetzt jeden Moment zu platzen, um uns zu ertränken.
»Als würde Gott wollen, dass uns heute Abend bei dem Spiel die Haare explodieren«, stimmte ihr ihre Bambi-Freundin zu. »Hey, wer hat meinen Concealer geklaut?«
»Süße«, warf ein anderes Bambi gelangweilt ein, »es ist noch viel zu lang bis zum Gottesdienst nächste Woche, als dass ihr zwei so fromm daherreden solltet. Gib mir mal das Haarspray.«
Mann, diese Mädchen waren eine Plage. Wenn ich irgendetwas Wesentliches aus ihnen herausbekommen wollte (sprich: wen die Jungs aus der Zwölften bei der lang ersehnten Palmetto-Prinzenpaar-Wahl unterstützen würden), musste ich wohl selbst reingehen. Also klappte ich das Handy zu, schenkte den permanent-selbstverliebten Darstellern, die mir im Gang entgegenkamen, mein schönstes Bühnenlächeln und glitt durch die Tür in den Waschraum.
Im Bambi-Land zog ich die Augenbrauen hoch, schürzte die Lippen und drängte mich durch eine nach Orangen duftende Haarspray-Wolke zum Spiegel durch.
»Macht mal Platz, Mädels«, verlangte ich.
Nach einem Chor aus »Hi, Natalie!« und »Sorry, Natalie!« machten die Bambis ihre Münder zu und traten beiseite. Alles Gerede über den Sturm und nachfolgende Frisurkatastrophen schien vergessen.
Selbst Kate Richards, die Anführerin der Zehntklässlerinnen und die am wenigsten Abstoßende von ihnen, legte den Lockenstab weg und rückte zur Seite. Kate hatte sich meinen Respekt bei ihrer Neulings-Einführung im letzten Jahr erworben, als ihr ein Zwölftklässler eine Schere gegeben und sie aufgefordert hatte, ihre bis zur Taille reichenden Locken abzuschneiden. Die Hälfte meiner Klasse war immer noch nicht darüber hinweg, wie Kate aus ihrer eigenen Einführung gestürmt war, aber ich persönlich bewunderte ein Mädchen mit solchem Mut.
An diesem besonderen Morgen wusste Kate – genau wie alle anderen –, dass es nicht üblich war, dass sich eine Zwölftklässlerin auf Bambi-Gebiet aufbrezelt. Mit einer Armbewegung wischte sie die Kosmetiktäschchen ihrer Klassenkameradinnen in die Ellenbeuge und machte auf der Ablage Platz für mich. Ich zwinkerte ihr zum Dank zu und sie zwinkerte zurück und warf ihr mittlerweile berühmtes honigfarbenes Haar über die Schulter.
Lässig ließ ich meine Kosmetiktasche fallen und warf einen Blick in den Spiegel. Meine dunklen Haare fielen mir locker um die Schultern und betonten meine glänzenden braunen Augen. Meine Haut war glatt und rein, nur mitten auf der Stirn stand eine ärgerliche Sorgenfalte. Ich holte tief Luft und griff zur Wimpernzange.
Mit dem Auge, das nicht im Griff des – wie Mike es nannte – mittelalterlichen Folterinstrumentes klemmte, beobachtete ich meine Wirkung auf die mittlerweile stille Szene.
»Was ist los, Mädels?«, fragte ich und wandte Kate absichtlich den Rücken zu, damit sie wusste, dass ich sie nicht meinte. »Hat es euch die Sprache verschlagen?«
Steph Merritt, die Reinkarnation der ewigen Zehntklässler-Blondine, sah auf ihre Füße und stammelte: »Wir haben gerade davon gesprochen, wie toll wir dein
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