Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
den Hut auf den Kopf gesetzt und sich den weißen seidenen Abendschal über die Schulter geworfen hatte. In diesem Moment sah sein Bruder aus wie ein Mann, der ein aufregendes, unkonventionelles Leben vor sich hatte, ein Mann, der viel besser als Andras geeignet war, in einem fremden Land aus einem Eisenbahnwaggon zu steigen, um dort sein Glück zu machen. Dann zog Tibor zwinkernd den Schlüssel aus der Tasche, und einen Augenblick später jagten sie die Treppen hinauf wie Schuljungen.
Frau Hász wohnte in der Nähe des Városliget, des Stadtparks mit seiner Märchenburg und der weitläufigen Badeanstalt. Das Haus auf der Benczúr utca war eine Villa im italienischen Stil mit cremefarbenem Stuck, auf drei Seiten von einem verborgenen Garten umgeben; hinter einer weißen Steinmauer erhoben sich die Wipfel von Spalierbäumen. Andras konnte das schwache Plätschern eines Springbrunnens ausmachen und das Kratzen eines Gärtnerrechens. Er fand es schwer vorstellbar, dass hier Juden lebten, doch am Eingang war eine Mesusa an den Türrahmen genagelt – ein von goldenem Efeu umrankter silberner Zylinder. Als Andras auf die Klingel drückte, erklang im Haus ein fünftöniges Geläut. Dann näherten sich klappernd Absätze auf Marmor, schwere Riegel wurden zurückgeschoben. Eine weißhaarige Haushälterin öffnete die Tür und bat Andras herein. Er trat in einen Eingangsbereich mit Kuppeldecke und rosafarbenem Marmorboden, in dessen Mitte ein Intarsientisch mit einer chinesischen Vase voller Callas stand.
»Madame Hász ist im Wohnzimmer«, sagte die Frau.
Andras folgte ihr durch die Eingangshalle und einen Gang mit gewölbter Decke hinunter. Sie blieben vor einer Tür stehen, durch die er das Crescendo und Decrescendo von Frauenstimmen hörte. Andras konnte die einzelnen Worte nicht verstehen, aber es war ganz offensichtlich ein Streit: Eine Stimme wurde immer höher und schriller, dann wieder schwächer; die andere war anfangs ruhig, erhob sich, setzte nach und verstummte schließlich.
»Warten Sie kurz«, bat die Haushälterin und ging hinein, um Andras’ Ankunft zu verkünden. Es folgte abermals ein kurzer Wortwechsel, als hätte der Streit etwas mit Andras zu tun. Dann kam die weißhaarige Frau wieder heraus und geleitete ihn in einen großen, hellen Raum, in dem es nach Blumen und gebuttertem Toast roch. Auf dem Boden lagen rosa-goldene Perserteppiche, darauf standen weiße Damastsessel, zwei lachsfarbene Sofas; auf einem niedrigen Tisch eine Schale mit gelben Rosen. Frau Hász hatte sich von ihrem Stuhl in der Ecke erhoben. An einem Sekretär am Fenster saß eine ältere Dame in schwarzer Witwentracht, das Haar mit einem Spitzentuch bedeckt. Sie hielt einen wachsversiegelten Brief in der Hand, den sie unter einen gläsernen Briefbeschwerer auf einen Bücherstapel legte. Frau Hász durchquerte das Zimmer, um Andras zu begrüßen. Ihre Hand war fest und kalt.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Das ist meine Schwiegermutter, die ältere Frau Hász.« Sie wies mit dem Kinn auf die Dame in Schwarz. Die Frau war zierlich und hatte tiefe Falten im Gesicht, das Andras trotz seiner kummervollen Aura schön fand; die großen grauen Augen strahlten stillen Schmerz aus. Er deutete eine Verbeugung an und grüßte förmlich: Kezét csókolom, ich küsse Ihre Hand.
Die ältere Dame nickte zur Erwiderung. »Sie haben sich also bereit erklärt, Jószef ein Paket zu bringen«, sagte sie. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Es gibt sicherlich schon genug, an das Sie denken müssen.«
»Nicht der Rede wert.«
»Wir werden Sie nicht lange aufhalten«, sagte Frau Hász. »Simon packt gerade die letzten Dinge ein. In der Zwischenzeit werde ich eine Kleinigkeit zu essen bringen lassen. Sie sehen halb verhungert aus.«
»Nein, bitte machen Sie sich keine Umstände!«, sagte Andras. Tatsächlich hatte ihn der verlockende Toastgeruch daran erinnert, dass er noch nichts gegessen hatte, doch er befürchtete, dass selbst die kleinste Mahlzeit in diesem Haus eine längere Zeremonie mit ihm unbekannten Regeln erforderlich machen würde. Und er hatte es eilig: Sein Zug ging in drei Stunden.
»Junge Männer haben immer Hunger«, sagte Frau Hász und rief die Haushälterin zu sich. Sie gab ihr einige Anweisungen und schickte sie wieder davon.
Die ältere Dame erhob sich von ihrem Stuhl am Schreibtisch und machte Andras Zeichen, neben ihr auf einem der lachsfarbenen Sofas Platz zu nehmen. Er setzte sich, besorgt, seine Hose
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