Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
drüber geworden und hab Pillen genommen. Aber jetzt will ich nich mehr kämpfen. Ich will nur noch wissen, wer meine Mutter war.
Teil 1
Leben
1
Die Untersuchung
A m 29. Januar 1951 saß David Lacks hinter dem Lenkrad seines alten Buick und blickte hinaus in den Regen. Er hatte unter einer hohen Eiche vor dem Johns Hopkins Hospital geparkt. Bei ihm saßen drei seiner Kinder, zwei davon noch in den Windeln, und warteten auf Henrietta Lacks, ihre Mutter. Ein paar Minuten zuvor war sie eilig aus dem Auto gestiegen, hatte sich die Jacke über den Kopf gezogen und war in die Klinik gelaufen, vorüber an der Toilette mit der Aufschrift »Farbige«, der einzigen, die sie benutzen durfte. Im nächsten Gebäude stand unter einem elegant geschwungenen Kupferdach eine fast vier Meter hohe Jesusstatue aus Marmor. Mit weit ausgebreiteten Armen hielt sie Gericht über den früheren Haupteingang des Hopkins. Niemand aus Henriettas Familie war jemals bei einem Arzt der Klinik gewesen, ohne zuvor die Statue aufzusuchen, ihr Blumen zu Füßen zu legen, ein Gebet zu sprechen und an ihrem großen Zeh zu reiben – das sollte Glück bringen. Aber heute blieb Henrietta nicht stehen.
Sie ging geradewegs in das Wartezimmer der gynäkologischen Abteilung, einen großen, offenen Raum, der bis auf ein paar lange Bänke mit hoher Lehne leer war. Sie sahen aus wie Kirchenbänke.
»Ich habe einen Knoten an der Gebärmutter«, sagte sie zu der Rezeptionistin. »Das muss der Arzt sich mal ansehen.« Schon seit über einem Jahr hatte Henrietta ihren engsten Freundinnen erzählt, dass sie sich nicht ganz wohl fühlte. Eines Abends, nach dem Abendessen, hatte sie mit ihren Cousinen Margret und Sadie auf dem Bett gesessen und gesagt: »Ich habe einen Knoten in mir.«
»Einen was?«, fragte Sadie.
»Einen Knoten. Der tut schrecklich weh. Wenn dieser Mann zu mir kommen will – Jesus Christus, das sind Schmerzen.« Als es ihr beim Sex zum ersten Mal weh tat, glaubte sie, es habe mit der kleinen Deborah zu tun, die sie ein paar Wochen zuvor zur Welt gebracht hatte. Oder auch mit dem schlechten Blut, das David manchmal nach Hause brachte, wenn er über Nacht bei anderen Frauen gewesen war – die netten Ärzte behandelten es mit Penicillin- und Schwermetallspritzen.
Einmal griff Henrietta nach den Händen ihrer Cousine und führte sie zu ihrem Bauch, genau wie damals, als Deborah zum ersten Mal getreten hatte.
»Spürst du was?«
Immer wieder drückten die Cousinen ihr die Finger in den Bauch.
»Ich weiß nicht«, sagte Sadie. »Vielleicht bist du außerhalb der Gebärmutter schwanger – du weißt doch, so was kommt vor.«
»Ich bin nicht schwanger«, erwiderte Henrietta. »Das ist ein Knoten.«
»Hennie, das musst du nachsehen lassen. Denn wenn es was Schlimmes ist…«
Aber Henrietta ging nicht zum Arzt, und die Cousinen erzählten niemandem, was sie im Schlafzimmer gehört hatten. Über Dinge wie Krebs redete man zu jener Zeit nicht, Sadie aber vermutete, Henrietta hielt es geheim, weil sie Angst hatte, der Arzt würde ihr die Gebärmutter herausnehmen, so dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte.
Ungefähr eine Woche nachdem sie ihren Cousinen erzählt hatte, dass etwas nicht stimmte – sie war 29 -, wurde sie mit Joe schwanger, ihrem fünften Kind. Sadie und Margaret erklärten, die Schmerzen hätten wohl doch irgendwie mit dem Kind zu tun gehabt. Aber Henrietta sagte immer noch nein.
»Es war schon vor dem Baby da«, beharrte sie. »Es ist was anderes.«
Von nun an redete niemand mehr über den Knoten, und David, Henriettas Mann, erfuhr überhaupt nichts davon. Viereinhalb Monate nachdem Joseph geboren worden war, fand Henrietta eines Tages beim Wasserlassen Blut in ihrer Unterwäsche, obwohl es nicht die Zeit ihrer Regel war.
Sie ließ die Badewanne volllaufen, setzte sich ins warme Wasser und spreizte langsam die Beine. Für die Kinder, ihren Mann und die Cousinen blieb die Tür verschlossen. Henrietta steckte sich einen Finger in die Scheide und strich quer über den Muttermund, bis sie fand, was sie irgendwie schon die ganze Zeit gespürt hatte: einen harten Klumpen, tief drinnen, als ob jemand unmittelbar links von der Öffnung der Gebärmutter einen Kieselstein eingesetzt hätte.
Henrietta stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich an. Dann sagte sie zu ihrem Mann: »Du bringst mich am besten mal zum Arzt. Ich blute, und es ist nicht die Zeit dafür.« Der Hausarzt untersuchte sie, sah den Knoten und
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