Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
was es ist. Im Cytoplasma geht es so lebhaft zu wie auf einer Straße in New York. Es ist vollgestopft mit Molekülen und Leitungsbahnen, in denen ständig Enzyme und Zucker von einem Teil der Zelle zum anderen transportiert werden; außerdem pumpen sie Wasser, Nährstoffe und Sauerstoff in die Zelle hinein und wieder raus. Im Cytoplasma sind rund um die Uhr winzige Fabriken am Werk: Sie produzieren Zucker, Fette, Proteine und Energie, um alles in Gang zu halten und den Zellkern zu ernähren. Der Zellkern ist die Steuerungszentrale: In jedem Zellkern jeder Körperzelle liegt
eine Kopie unseres gesamten Genoms. Dieses Genom sagt den Zellen, wann sie wachsen und sich teilen sollen, und es sorgt dafür, dass sie ihre Aufgaben erfüllen, ob sie nun den Puls regulieren oder unserem Gehirn helfen, die Worte auf dieser Seite zu verstehen.
Defler ging vorn im Hörsaal auf und ab und erklärte uns, wie ein Embryo durch die Mitose – den Prozess der Zellteilung – zum Baby heranwächst und wie unser Organismus durch den gleichen Vorgang neue Zellen hervorbringt, damit Wunden heilen und verlorenes Blut ersetzt wird. Das Ganze, sagte er, sei so wunderschön wie ein perfekt choreografierter Tanz. Aber auch das erklärte er uns: Im Teilungsprozess muss sich bloß irgendwo ein kleiner Fehler einschleichen, und schon beginnen die Zellen sich unkontrolliert zu vermehren. Nur ein Enzym mit falscher Aktivität, nur eine falsche Proteinaktivierung, und schon hat man Krebs. Die Mitose gerät außer Kontrolle, und deshalb breitet sich der Tumor aus. »Das alles weiß man, weil man Krebszellen in Zellkulturen untersucht hat«, sagte Defler. Er grinste, wandte sich zur Tafel und schrieb in riesigen Lettern zwei Wörter: HENRIETTA LACKS.
Henrietta, so erzählte er uns, war 1951 an einem bösartigen Gebärmutterhalskrebs gestorben. Kurz vor ihrem Tod aber hatte ein Chirurg einige Proben des Tumors entnommen und in eine Petrischale gegeben. Damals waren Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten bemüht, menschliche Zellen im Labor zu züchten, aber vergebens: Irgendwann waren sie immer abgestorben. Henriettas Zellen nun verhielten sich anders: Sie vermehrten sich, bildeten alle 24 Stunden eine neue Generation und stellten ihr Wachstum nie ein. Sie wurden zu den ersten unsterblichen menschlichen Zellen, die man im Labor gezüchtet hatte.
»Henriettas Zellen leben außerhalb ihres Körpers schon viel
länger, als sie darin gelebt haben«, sagte Defler. Man könne in nahezu jedes Zellkulturlabor auf der ganzen Welt gehen und die Gefriertruhen öffnen; die Wahrscheinlichkeit, in kleinen, auf Eis gelagerten Gefäßen viele Millionen oder sogar Milliarden HeLa-Zellen zu finden, sei sehr, sehr hoch.
An Henriettas Zellen wurden die Gene erforscht, die Krebs verursachen oder ihn unterdrücken; sie trugen zur Entwicklung von Medikamenten bei, mit denen man Herpes, Leukämie, Grippe, Hämophilie und die Parkinson-Krankheit bekämpfen kann; und man verwendete sie zur Untersuchung aller möglichen Fragen: von der Laktoseverdauung über sexuell übertragbare Krankheiten, Blinddarmentzündung, Lebensverlängerung und das Paarungsverhalten von Mücken bis hin zu den schädlichen Nebenwirkungen der Arbeit in der Kanalisation. Ihre Chromosomen und Proteine wurden so eingehend untersucht, dass die Wissenschaftler heute jedes Detail kennen. Wie Meerschweinchen und Mäuse, so sind auch Henriettas Zellen zu einem allgemein gebräuchlichen Laborhilfsmittel geworden.
»Die HeLa-Zellen gehören mit zum Wichtigsten, was in der Medizin während der letzten hundert Jahre geschehen ist«, sagte Defler.
Und dann, als sei es ihm gerade erst eingefallen, fügte er nüchtern hinzu: »Sie war übrigens eine Schwarze.« Mit einer schnellen Bewegung wischte er ihren Namen von der Tafel und blies sich den Kreidestaub von den Händen. Die Stunde war zu Ende.
Während die anderen Studierenden aus dem Hörsaal strömten, saß ich da und dachte: Und das war alles? Mehr erfahren wir nicht? Das ist doch nicht die ganze Geschichte!
Ich folgte Defler in sein Büro.
»Woher kam sie?«, fragte ich. »Wusste sie, wie wichtig ihre Zellen waren? Hatte sie Kinder?«
»Das alles würde ich Ihnen wirklich gern sagen können«, antwortete er, »aber man weiß so gut wie nichts über sie.«
Nach der Schule rannte ich nach Hause und legte mich mit meinem Biologiebuch auf das Bett. Ich schlug im Register das Wort »Zellkultur« nach, und da stand es:
Krebszellen können sich in
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