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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gleichzeitig grübeln.
    Unmöglich.
    Aurora gähnte ausgiebig.
    Schlecht geschlafen hatte sie zudem.
    Und als sie endlich wach geworden war, hatte sie lange dagelegen und die Decke angestarrt, zum Fenster hinausgeschaut, die Schatten an der Wand begutachtet und in all diesen Dingen nach einer Antwort gesucht. Einer Antwort auf die Frage, warum sie von ihm geträumt hatte. Sie hatte ihn ein einziges Mal gesehen, und das auch nur aus der Ferne. Sie war mit Emily durch die verwinkelten Gassen nahe Charing Cross gezogen. Buchläden hatten sie durchstöbert und sich die Bilder in den Schaukästen der Kinos am Leicester Square angesehen. In einem Antiquariat am Cecil Court hatte Emily für Wittgenstein ein Buch erstanden, und die Besitzerin, eine gewisse Miss Eliza Holland, die Aurora von einigen ihrer Besuche im Museum her kannte, hatte auch Grüße an Master Micklewhite ausrichten lassen. Zwei Straßen weiter hatten sie dann den Jungen aus dem Raritätenladen gesehen. Er trug einen Packen Bücher unter dem Arm, die in festes Paketpapier eingewickelt und sorgsam umschnürt waren.
    »Da ist Little Neil«, sagte Emily und rief nach dem Jungen.
    Der sie jedoch nicht hörte und seines Weges ging.
    Zu viel Lärm.
    »Das ist der Junge aus dem Raritätenladen«, hatte Emily ihr erklärt.
    »Er sieht nett aus«, räumte Aurora ein.
    Little Neil hatte eine Mütze getragen und dazu die dunkelblaue Matrosenjacke mit den großen Knöpfen. Ungestümes blondes Haar hatte unter der Mütze hervorgelugt. Sein Gang war beschwingt gewesen, und es hatte so ausgesehen, als pfeife er ein Liedchen vor sich hin. Trotz des Regens. Trotz des Herbststurmes, der durch die Gassen heulte.
    »Er hat ein sonniges Gemüt«, hatte Emily gesagt, »und er träumt fortwährend davon, zur See zu fahren.«
    Verträumt hatte Emily dem Jungen hinterhergesehen.
    Fand Aurora.
    Umso beflissener hatte sie gehofft, ihm nicht verträumt hinterherzublicken.
    Dennoch hatte sie sich gefragt, ob Little Neil und Emily … gute Freunde waren.
    Im Grunde genommen war es das, wovon sie letzte Nacht geträumt hatte.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Und betrachtete die Anubis-Skulptur.
    War es möglich, dass man einen Jungen nur einmal sah und das nicht einmal aus der Nähe und …?
    Ach, ganz durcheinander war sie!
    »Wie nett, Sie hier zu treffen«, begrüßte Dorian Steerforth sie, »wo ich doch eigentlich erwartet hatte, Miss Laing zu begegnen.«
    »Master Steerforth«, sagte sie.
    »Dorian.«
    Auch gut.
    Sagte sie also: »Dorian.«
    Wie aus dem Nichts war er vor ihr aufgetaucht. Geschniegelt und in schwarzer Lederkluft und überaus hübsch anzusehen. Aurora fand, dass er wirklich wie Jude Law aussah. Wie eine sehr junge Ausgabe des Schauspielers jedenfalls. Einfach hinreißend. So perfekt, dass es schon wieder unwirklich wirkte.
    »Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen, Miss Fitzrovia?«
    »Aurora«, meinte Aurora.
    Zögerlich.
    »Aurora«, sagte Dorian.
    Und lächelte.
    Einfach entwaffnend.
    »Ich muss gleich wieder zurück zu Master Micklewhite.«
    »Oh. Ja, natürlich.«
    Die beiden standen da und sahen einander an.
    Die anderen Besucher der ägyptischen Abteilung, insbesondere die Frauen – aber, das sollte angemerkt werden, auch die Männer –, warfen Dorian Steerforth verstohlene Blicke zu.
    Aurora empfand es schlichtweg als unangenehm, schweigend und tatenlos dazustehen. Wunderschön anzusehen war dieser Dorian, und sie fragte sich, was Emily tief in ihrem Herzen empfand. Geschickt hatte sie Emily mehrmals geneckt, um herauszufinden, wie sie zu dem Jungen aus dem Raritätenladen stand.
    »Little Neil«, hatte Emily es auf den Punkt gebracht, »ist ein Junge. Und Steerforth ist … nun ja, zumindest kein Junge mehr.«
    Jetzt, da sie Dorian so nah gegenüberstand, erkannte Aurora, was ihre Freundin gemeint hatte. Wenngleich Dorian kaum älter als zwanzig sein durfte, wirkte er doch erwachsen. Da war etwas in seinen Augen, das ihn älter wirken ließ. Er verhielt sich reifer als die Jungen in ihrem Alter, die die Mädchen in der Schule mit teilweise unerhört dümmlichen Sprüchen foppten.
    Und dennoch zog sie die aufrichtige Jungenhaftigkeit Little Neils vor.
    Mochte Steerforth noch so wunderschön anzusehen sein.
    Aurora mochte Neil.
    Punktum.
    »Sagten Sie nicht, dass Sie meine Freundin zu finden gedachten?«
    »Aber ja.«
    Aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, verspürte Aurora nicht das geringste Interesse, ein längeres Gespräch mit Dorian

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