Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Steerforth zu führen. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war sie ganz begeistert gewesen, völlig aus dem Häuschen sozusagen. Wenngleich sich diese Begeisterung auf die rein äußerlichen Attribute beschränkte, das hatte sie auch damals schon geahnt. Es war wirklich eine Wonne, ihn zu betrachten. Kein Mädchen wäre bei diesem Anblick nicht ins Schwärmen geraten. Doch war dies ein Schwärmen, das man mit der Freundin teilte. Nicht die Art Schwärmen, die einem den Blick verklärte, wenn man allein im Zimmer war, aus dem Fenster starrte und der Musik aus dem CD-Player lauschte.
»Ich kann Emily etwas ausrichten«, schlug Aurora vor, »wenn Sie möchten.« Und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Dorian.«
Ihr Gegenüber lächelte.
Einfach umwerfend.
Und sagte: »Ich muss verreisen. Die nächsten Tage nur, nicht lange also. Doch habe ich Emily versprochen, sie auszuführen.« Gespielt verlegen senkte er einen Moment lang das schöne Haupt, und Aurora glaubte, eine graue Strähne in dem sonst so pechschwarzen Haar erkannt zu haben. »Es wäre nett, wenn Sie Ihrer Freundin ausrichten könnten, dass ich mich nach meiner Rückkehr vom Kontinent wieder bei ihr melden werde.«
Deswegen ist er hergekommen?, fragte sich Aurora.
»Kein Problem«, versicherte sie lächelnd.
»Dann danke ich Ihnen.«
Er lächelte zurück.
Herzallerliebst.
»Und Sie haben wirklich keine Lust, mir bei einem Kaffee oder Tee Gesellschaft zu leisten?«
Wieder verspürte Aurora diesen starken Widerwillen.
»Wie gesagt«, entschuldigte sie sich, »ich habe gleich noch eine Verabredung mit meinem Mentor.«
»Wie schade«, antwortete Dorian bedauernd. »Wir hätten uns bestimmt aufs Angenehmste unterhalten.«
»Davon bin ich überzeugt«, murmelte Aurora etwas unbeholfen. »Doch …«
Er nickte. »Ja, der Termin. Nun ja, vielleicht ein andermal.«
Jetzt verschwinde schon, dachte Aurora.
Und war selbst überrascht von der Heftigkeit des Wunsches.
Was war nur mit ihr los? Jede Frau, die Dorian Steerforth erblickte, hätte einiges dafür gegeben, um nur wenige Augenblicke in seiner Gesellschaft verweilen zu dürfen. Die Blicke der anderen Museumsbesucher waren Aurora nicht entgangen, und sie fragte sich, was es war, das die Menschen so für ihn einnahm. War es sein gewinnendes Lächeln oder die geschmeidige Art, sich zu bewegen? Die gewählte Ausdrucksweise oder jener singende Unterton in seiner Stimme? Aurora wusste es nicht. Keines von alledem und alles zusammen vielleicht. Je mehr sie darüber nachdachte, umso weniger verstand sie ihre eigene ablehnende Haltung. Doch war diese da, und überaus stark dazu. Nicht einmal gegenüber den beiden Jägern, Mr. Fox und Mr. Wolf, hatte Aurora eine derartige Abneigung verspürt. Jene beiden hatten gefährlich gewirkt, und sie hatte sich gefürchtet. Angst hatte sie verspürt, ja, und wie! Doch keinerlei Abscheu.
»Richten Sie Emily die Nachricht aus?«
»Natürlich.« Weswegen sollte sie das nicht tun?
Dann verabschiedete sich Dorian Steerforth.
Schlenderte mit diesem wippenden Gang aus den Ausstellungsräumen.
Und war verschwunden, bevor Aurora auch nur richtig wahrgenommen hatte, dass er überhaupt da gewesen war.
»Einen schönen Tag noch«, murmelte ihm das Mädchen bissig hinterher.
Und setzte sich ihrerseits in Bewegung.
Ausführen wolle er Emily, hatte er gesagt. Hatte er Emily das versprochen? Wenn ja, wie hatte sie reagiert? Nur zu gerne hätte Aurora gewusst, ob ihre Freundin diesem Steerforth – sie scheute sich davor, ihn Dorian zu nennen, denn der Vorname suggerierte eine Intimität, die sie nicht verspürte – so zugetan war wie dieser offenkundig ihr.
Was wollte der Kerl nur von ihrer Freundin?
Natürlich war Aurora nicht entgangen, dass Emily leuchtende Augen bekam, wenn sie von Steerforth sprach. Stärker leuchtende Augen als bei Little Neil? Na, hoffentlich! Aurora wusste, dass Emily sich nächtelang darüber den Kopf zerbrach, wie die Jungs auf ihr Mondsteinauge reagieren mochten, wenn sie einmal älter wäre. Sah sie in Steerforth vielleicht einen Leidensgenossen? Immerhin verunzierte eine große, hässliche Narbe dessen ansonsten makelloses Gesicht.
Ach, was wusste sie schon?
War sie doch nur ein Kind.
Ein Waisenkind obendrein.
Mit einem Mal kam sich Aurora klein und mutlos vor. Umgeben von all den Resten und Trümmern untergegangener Kulturen blieb dem Mädchen auch gar nichts anderes übrig, als sich klein vorzukommen. Riesige Reiche, einstmals
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