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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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bestehend aus Millionen Menschen, waren am Ende doch zerfallen. Aurora fragte sich, ob sich hinter all den Scherben und Dingen und Skulpturen ähnliche Schicksale wie das ihre verbargen. Hatte es auch einst am Hof von Amarna Mädchen gegeben, die unglücklich verliebt gewesen waren? Hatten sich Freundinnen im alten Rom die gleichen Fragen gestellt, wie sie es gerade tat? Da beschlich sie das Gefühl, das jeden heimsucht, der sich mit der Geschichte der Menschenreiche und der uralten Metropolen beschäftigt. Die Vergänglichkeit wurde greifbar. All die Geschichten, die sich einst zugetragen hatten, all die Schicksale und Glücksmomente, all dies wiederholte sich letzten Endes doch nur. All das erschuf nichts wirklich Neues. Alter Wein in neuen Schläuchen, hätte man sagen können. Die Geschichten erfanden sich einfach nur immer wieder neu. Und war es nicht so, dass man selbst unwichtig wurde in diesem Abgrund aus Zeit und Schicksal? In dieser bodenlosen Ewigkeit, die nichts anderes als eine dauernde Wiederholung war?
    Eine Wiederholung, nicht mehr.
    Auch nicht weniger.
    Es ist, was es ist.
    Die Welt.
    Das Leben.
    London.
    Letzten Endes hatte Aurora es erfasst. Doch half ihr das weiter?
    Nicht im Geringsten.
    Wie alle tiefsinnigen Gedanken war auch dieser kaum dazu geeignet, ihr in der jetzigen Situation zu helfen.
    »Ich bin einfach durcheinander«, sagte sie zu sich selbst. Beziehungsweise zu ihrem Spiegelbild, das ihr von der Vitrine mit den ägyptischen Papyri müde und grimmig entgegenstarrte. »Ich bin einfach durcheinander«, sagte auch das Spiegelbild. Die dunklen Augen, das lockige, pechschwarze Haar, mittlerweile kurz geschnitten. Nimmer war dies das Gesicht eines Mädchens, dessen Vater irischer Postbote war. Mit einem Lächeln musste sie sich die Tränen aus den Augen wischen. Jahrelang hatte sie sich eingeredet, ihr Vater würde sie finden. Die kleine, kindliche Aurora hatte im Waisenhaus stets behauptet, ihr Vater würde sie suchen und auf kurz oder lang auch finden, indem er seine Beziehungen spielen ließe. Immerhin, so hatte sie felsenfest geglaubt, war er ja bei der Post. Dies alles nur wegen des Briefkastens, unter dem man sie gefunden hatte. Verrückt war das schon gewesen.
    Mittlerweile sah sie, dass sie nicht allein war.
    Dass auch andere mit einem ähnlichen Schicksal haderten.
    Jedermann hatte Probleme mit der Familie, oder etwa nicht?
    Niemals vorher hätte sie gedacht, dass sogar ihr Mentor eine solche Bürde tragen müsste.
    Maurice Micklewhite hatte vor dem Senat jene ungeheuerlichen Anschuldigungen vorgebracht und war abgewiesen worden. Damals. Im Frühjahr anno 1889. Der junge Lord Mushroom, der nach dem plötzlichen Tod seines Vaters dessen Position im Senat eingenommen hatte, hatte seinen Widersacher aufs Ärgste angegriffen, und der Senat, unterstützt von der Kaste der Ratten, hatte Micklewhite keinerlei Unterstützung zuteil werden lassen.
    »Die Ratten wollten ihren Plan realisieren«, hatte ihr Maurice Micklewhite erklärt.
    »Die Hochzeit.«
    »Sie sagen es.«
    So verbanden sich die Ratten mit dem Senat und redeten Lord Mushroom nach dem Mund. Manderley Manor indes teilte Maurice Micklewhites Meinung, und so kam es zu erhitzten Diskussionen und Schuldzuweisungen, die in einem Blutbad endeten.
    »Die Aufstände«, fuhr Maurice Micklewhite fort, »begannen in Whitechapel.«
    Angehörige und Verbündete Manderley Manors übten Blutrache an Angehörigen und Verbündeten der Mushrooms. Familien, die bisher nur am Rande mit beiden Häusern zu tun gehabt hatten, wurden in die Fehde hineingezogen. Der Rest ist Geschichte. Ein Flächenbrand wurde entfacht, der ganz London zu verschlingen drohte. Jedermann übte Rache für den Verlust seiner Lieben, und bald schon wusste niemand mehr genau, womit alles begonnen hatte.
    Kaum jemand dachte mehr an den Golem.
    Und daran, dass noch immer derjenige, der dem Lehmklumpen Leben eingehaucht hatte, durch die Straßen Londons laufen und seinen Geschäften nachgehen konnte.
    »Die Ratten führten schließlich Gespräche mit beiden Parteien«, erzählte der Elf.
    Langwierige Verhandlungen.
    Keiner wollte nachgeben.
    Auf beiden Seiten war Blut geflossen, und alle wollten Vergeltung.
    »Doch man einigte sich.«
    Die blutjunge und bildschöne Mia Manderley und der ihr an Jahren überlegene Martin Mushroom gaben sich in der Abtei zu Westminster das Jawort.
    Die uralte Metropole atmete auf.
    Maurice Micklewhite sollte seine Anschuldigungen um des Friedens

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