Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Kindern in London und in der uralten Metropole erzählt. Oftmals sind es hübsche Prinzen oder Burschen oder schöne Prinzessinnen oder Mägde. Sie verstecken ihr wahres Gesicht, das meist alt und hässlich und entstellt ist, weil sich ihre elenden Taten darin zeigen. Sie laben sich am Leid der Menschen, das sie selbst heraufbeschwören. An Missgunst und Niedertracht.«
Emily hätte gerne die Worte vergessen, die sie mit Aurora gewechselt hatte.
Am Bahnsteig von Leicester Square.
Bevor der Zug eingefahren war.
In den letzten Sekunden ihres Lebens hatte sie Aurora Fitzrovia beschimpft. Dabei war Aurora immer für sie da gewesen. Vielleicht hatte Aurora erkannt, dass Steerforth es nicht ehrlich mit ihr meinte, dass seine Absichten bar jeder Redlichkeit gewesen waren.
»Jeder Aphrodit hat ein Nest, wo sein wahres Bildnis versteckt ist.«
Emily schaute auf.
Irgendwie kam ihr dieser Aspekt der Sache bekannt vor.
»Konfrontiert man den Aphroditen mit seinem Bildnis, so stirbt er«, sagte Neil. »In den Geschichten jedenfalls ist das der einzige Weg, den Aphroditen zu besiegen.« Er trat vor den Sessel, in dem Emily noch immer kauerte, das Buch in den Händen. »Es gab keinen anderen Weg. Der Aphrodit hat dich als Opfer erwählt. Dich und Aurora. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.«
»Das ist leicht gesagt.«
»Ich weiß«, antwortete Neil.
Traurig.
Bedauernd.
Und fuhr fort: »Nur die wenigsten Menschen überleben die Begegnung mit einem Aphroditen. Du hast Glück gehabt, Emily.« Er kniete sich erneut vor sie auf den Boden und sah ihr in die Augen. »Du fühlst Trauer. Bist verzweifelt.« Eindringlich betonte er: »Du würdest gar nichts mehr spüren, wenn dich der Aphrodit wirklich angefallen hätte. Dein Herz hätte zu schlagen aufgehört.«
Erschrocken fragte sich Emily, ob Steerforth sich nur darauf konzentriert hatte, die Verzweiflung ihrer Freundin zu trinken. War es Auroras Todesangst gewesen, an der er sich gelabt hatte? Waren Emilys Wut und Schrecken nur ein netter Nachgeschmack für ihn gewesen?
Mit zitternder Hand rieb sie sich die Augen.
Eigentlich wollte sie nicht einmal darüber nachdenken.
»Warum gerade ich?« Die alte Frage tauchte wieder auf.
»Ich habe keine Ahnung«, gab Neil wahrheitsgemäß zur Antwort.
»Wittgenstein glaubt, dass es einen Zusammenhang gibt.«
Neil machte nur: »Hm.«
Nichts sonst.
Er stand auf und nahm in dem Sessel gegenüber Platz.
»Vielleicht hat er etwas mit einer der beiden Familien zu tun?«, mutmaßte er, und als Emily nichts antwortete, fuhr er fort: »Du sagtest selbst, dass Steerforth unten in der Region herumgeisterte. Was in aller Welt hatte der Kerl dort zu suchen? Wollte er dich finden? Oder hatte er dort unten zu tun?« Neil kratzte sich nachdenklich am Kopf und zerwuselte das ohnehin zerzauste Haar noch mehr. »Hat er vielleicht etwas mit dem Golem zu tun?«
Emily wusste es nicht.
Im Grunde genommen wusste sie gar nichts mehr.
Sie war in diese Welt hineingezogen worden, und die Rolle, die sie spielte, war ihr selbst noch nicht ganz klar. Im Gegenteil. Je mehr sie erfuhr, desto unklarer wurde alles. Da war das Buch in ihren Händen, das sie anklagte. Da waren der Golem und Lycidas und Wittgenstein und der Nyx und ihr Elternhaus, das nichts von ihr wissen wollte. Da war die kleine Mara, die sich vor etwas ängstigte, das in den langen Korridoren von Manderley Manor hauste. Emily trat auf der Stelle, und es war dieser Stillstand, der sie an den Rand des Wahnsinns trieb. Immer mehr. Und wenn sie recht darüber nachdachte, dann schien es nur eine einzige Lösung zu geben. Sie musste jemanden fragen, der sich auskannte. Jemand, der ihr die Lücken in dem Puzzle würde erklären können.
Jemand, der nicht das geringste Interesse verspürte, mit ihr zu reden.
»Du solltest es tun«, meinte Neil, nachdem sie ihm ihre Gedanken offenbart hatte.
Emily rief sich das strenge Gesicht ins Gedächtnis zurück.
Jenes herrschsüchtige Antlitz, das ihr solche Angst eingejagt hatte.
Es fiel ihr schwer, die hoch gewachsene Frau als das zu bezeichnen, was sie war.
Ihre Großmutter.
»Wittgenstein wird nicht damit einverstanden sein«, gab sie zu bedenken.
»Er muss es ja nicht erfahren.«
Dieses Kind!
Hätte ich von ihrer Absicht gewusst, wäre ich keine Sekunde länger in der Nationalgalerie geblieben.
Schließlich war es Neil Trent, der es aussprach: »Du solltest nach Manderley Manor gehen.«
Emily ergriff seine Hand.
»Möchtest du, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher