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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Nordwärts trugen sie ihre Schritte, zurück nach Marylebone und weiter hinauf zum Regent’s Park, der sich in eine Schneelandschaft verwandelt hatte. Der wolkenverhangene Himmel über London spie weiterhin dicke Flocken aus, die unruhig in der Luft tanzten und sich schleierhaft über die Stadt legten. Kahle Bäume reckten ihre krallenartigen Äste in den Himmel. Die Kuppel der Moschee glänzte im fahlen Licht der Nachmittagssonne, und die Tiere im Zoo brüllten und plärrten und schnauften, dass man es weithin hören konnte, weil auch sie bitterlich froren, so wie Emily es tat. Unwillkürlich musste das Mädchen an die Begegnung mit den Werwölfen aus Whitechapel denken. Lucia del Fuego hatte sie gerettet, und wie hatte Emily diese Frau bewundert! Doch war auch die graue Jägerin nur eine Illusion gewesen. War es in Wirklichkeit doch Master Lycidas, der Lichtlord selbst, der, wie er dem Mädchen später mitgeteilt hatte, sowohl als Mann als auch als Frau aufzutreten vermochte.
    Benommen torkelte Emily weiter. Sie fragte sich, weshalb sie nicht auf direktem Wege hierher gekommen war. Marylebone lag direkt am Regent’s Park. Dann musste sie an die Eisschicht denken, die den Fluss zu bedecken begann, und sie wusste, dass es diese Eisschicht gewesen war, die sie hinunter zur Themse gelockt hatte. Denn der Fluss war ebenso gefangen wie sie es war. Er wollte wild fließen und ungestüm Wellen schlagen, das Sonnenlicht einfangen, und doch gefroren seine Bewegungen zu klirrendem Eis, das ihn gefangen hielt und bändigte und ihm keine Luft zum Atmen ließ. Die uralte Metropole zwang den Fluss dazu, so zu sein. London beherrschte die Fluten.
    Niemals, das schwor sich Emily, sollte es ihr so ergehen.
    Nunmehr vollständig verwirrt, begab sie sich endlich nach Manderley Manor, das alt und mächtig und grau hinter den Baumgerippen aufragte, wie es das schon immer getan hatte.
    Das Mädchen lenkte seine Schritte den langen Torweg hinauf. Wispernde Schatten griffen nach ihren Füßen, und ein eisiger Wind fegte ihr ins Gesicht. Den Kragen hochgeschlagen und beide Hände tief in den Taschen vergraben, den Blick gesenkt und den Rucksack geschultert, stapfte sie mutig und verzweifelt zugleich vorwärts.
    Was mache ich eigentlich hier?, fragte sie sich, als sie endlich vor dem Portal stand.
    Ihre Finger, die trotz der Handschuhe ganz steif vor Kälte waren, suchten nach der Klingel.
    Sie fand den Knopf.
    Drinnen erklang ein Läuten.
    Tief und dunkel.
    Emily atmete durch.
    Nichts geschah.
    Sie klingelte erneut. Auch dieses Mal klang das Läuten nicht freundlicher.
    Dann öffnete sich die große Tür. Nicht einmal knirschend und auch nicht quietschend. Fast schon hatte Emily damit gerechnet, dass die Wirklichkeit der unwirklichen Realität eines der billigen Gruselfilme gewichen war, die sie vor einiger Zeit gemeinsam mit Aurora im Fernsehen gesehen hatte. Alte Schwarzweißfilme von James Whale und Roger Corman und vielleicht auch noch einige von Alfred Hitchcock aus der Zeit, als er noch ausschließlich in England gedreht hatte.
    »Was sind das für Filme«, hatte Aurora scherzhaft bemerkt, »in denen die Helden aussehen wie Peter Cushing und die Bösewichte wie Bela Lugosi?« Aurora, daran erinnerte sich Emily seltsamerweise gerade jetzt, hatte Laurence Olivier gemocht. »Er wirkt nett«, hatte sie ihrer Freundin offenbart.
    Emilys Meinung diesbezüglich war deutlich anders ausgefallen.
    Laurence Olivier, du meine Güte!
    Manderley Manor war ein altes Herrenhaus und keine Kulisse aus einem Film der Vierzigerjahre. Die Tür öffnete sich ohne das geringste Knarzen, und es war in der Tat ein ganz normaler alter Hausdiener, der dort stand und verwundert in das Gesicht des frierenden Mädchens starrte.
    »Guten Tag«, sagte Emily höflich, nannte ihren Namen und trug ihr Anliegen, Mylady sprechen zu dürfen, mit bebenden Lippen vor.
    Der alte Hausdiener starrte das Kind mit großen Augen an.
    Erst jetzt fiel Emily auf, wie sehr er sie anstarrte. Zudem schien es ihm die Sprache verschlagen zu haben.
    »Treten Sie ein«, sagte er nach einem Moment unangenehmen Schweigens, und als er zur Seite ging, wurde sich Emily der Gestalt bewusst, die anscheinend die ganze Zeit über im Schatten der riesenhaften Treppe gestanden hatte. Auf einen Stock gestützt, dessen silberner Knauf im fahlen Licht der riesenhaften Eingangshalle glänzte. Die Haare hochgesteckt und mit strengen, stahlblauen Augen über eine Brille stierend. So kam die alte Frau auf

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