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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ist dann später im Laden aufgetaucht und hat das Buch für Aurora erstanden«, erinnerte sich Neil. »Ich habe es ihm verkauft, und er hat wissen wollen, ob es ein gutes Buch sei.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Eines, das auch Mädchen lesen würden.«
    Emily schwieg.
    »Elfen sind seltsame Gesellen«, stellte Neil nur fest.
    Doch dachten beide Kinder das Gleiche.
    Maurice Micklewhite, das wusste Emily, besaß einen seltsam wissenden Humor. Peggotty, meine alte, riesenhafte Haushälterin, hätte die Lippen zu einem Lächeln verzogen und ihr rundes Gesicht wäre bei dem Versuch, sich keine Regung anmerken zu lassen, ganz rot geworden.
    Nachdem ich das Anwesen in Marylebone verlassen hatte, hatte Peggotty es nämlich auf den Punkt gebracht: »Miss Aurora mochte den jungen Herrn aus dem Raritätenladen. Ganz klar. Das hat man ihr doch angesehen.« Peggotty, deren weiße Kittelschürzen vor Stärke knarzten, wenn sie sich durch den Raum bewegte, hegte scheinbar keinerlei Zweifel diesbezüglich.
    »Aber ich habe gar nichts bemerkt«, konnte Emily nur schuldbewusst antworten.
    »Sie sind noch ein Kind.«
    »Sie hören sich an wie Wittgenstein.«
    »Er hat nicht in allem Unrecht«, erwiderte Peggotty und lächelte breit.
    Emily schwieg.
    Und Peggotty zählte auf, was ihr aufgefallen war. »Wenn sie beide vom Raritätenladen sprachen, hatte ihre Freundin immer den Blick gesenkt und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus, wie sie sich verhielten. Selbst wenn Wittgenstein vom Raritätenladen sprach, machte sie das so. Über Master Neil verlor sie niemals ein Wort. Kein ernstes jedenfalls. Allenfalls neckte sie Sie mit ihm.«
    »Woher wissen Sie das alles?«, fragte Emily.
    Peggotty antwortete nur: »Ich bin eine Frau.«
    »Wittgenstein hat mich niemals darauf hingewiesen.«
    »Er ist ein Mann«, sagte Peggotty, »und der Männer Wahrnehmung ist zu einfältig, als dass ihnen derlei Dinge auffallen würden.«
    »Sie meinen wirklich«, hakte Emily zaghaft nach, »dass Aurora ihn … gemocht hat?«
    Peggotty hielt es nicht einmal für nötig, auf diese Frage zu antworten.
    Nun denn.
    Emily betrachtete Neil und fragte sich, wie er die Sache sah. Beide, so viel stand fest, verspürten nicht die geringste Lust, über das Thema zu sprechen.
    »Heute Morgen stand es in der
Times
«, sagte Neil nur.
    Emily gab ihm keine Antwort.
    Starrte auf das Buch.
    Wie ein Mahnmal lag es in ihrem Schoß.
    Niemals würde Aurora erfahren, ob die Seeleute die Insel erreicht hatten und was sie dort erwartete. Der Gedanke, dass dort die Geschichte für Aurora zu Ende gewesen war, erfüllte Emily mit unsäglicher Trauer. Die Stelle, an der das Lesezeichen, dieser zerknitterte Kassenbeleg von Tesco, aus dem Buch herausragte, und all die Seiten, die noch zu lesen gewesen wären, zeigten Emily mehr als alles andere, dass ein Leben zu früh beendet worden war. Das Buch war ihre Version des verräterischen Herzens aus der Geschichte des Amerikaners, es pochte und pochte und niemals würde es sie zur Ruhe kommen lassen.
    Ganz fest hielt sie das Buch in den Händen.
    Berührte den Umschlag.
    Fühlte es. So schwer.
    »Du solltest das Buch weglegen«, meinte Neil auf einmal.
    Und streckte die Hand aus, um es entgegenzunehmen.
    Emily starrte ihn nur an.
    Mitten in die hellen, blauen Augen.
    Der Augenblick verging.
    Weitere folgten.
    Mit erstickter Stimme sagte sie schließlich: »Nein.« Und klammerte sich fast schon daran.
    »Warum?«
    »Es ist alles, was mir von Aurora geblieben ist.«
    Neil senkte den Blick.
    Dann stand er auf und ging zum Fenster. Sah hinaus ins verschneite London. Betrachtete anschließend die vielen seltsam anmutenden Gegenstände, die den ganzen Raum füllten, und von denen er manche kannte und andere wiederum nicht. Neugierig hatte er bereits beim Eintreten alles begutachtet. Immerhin war er noch nie zuvor in der Wohnung eines Alchemisten gewesen.
    »Warum bist du hier?«, wollte Emily unerwartet wissen.
    »Wittgenstein bat mich darum.«
    »Ist das der einzige Grund?«
    »Ich wollte bei dir sein.«
    »Du bist …«
    Er sah sie ernst an. »Ein Freund?«
    Sie senkte den Blick und ihr wurde bewusst, wie töricht ihre Frage gewesen war.
    Ablenkend sagte Neil: »Wittgenstein erwähnte den Aphroditen.«
    »Steerforth«, murmelte Emily nur.
    »Du hast nicht den Hauch einer Chance gehabt, Emily.« Neil wanderte durch den Raum und drehte geistesabwesend an dem riesigen, hölzernen Globus. »Es gibt Geschichten über Aphroditen, die man den

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