Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
die Emily daran erinnerten, wie Aurora gewesen war.
»Warum nur?«, flüsterte Emily.
Leise in den leeren Raum.
Hermann Melville hatte von der Fahrt der
Essex
gewusst und auf dem Schicksal des Walfängers basierend seinen berühmten Roman verfasst. Emily hatte Melville gelesen, und Aurora hatte damit begonnen, Nathaniel Philbricks Schilderung der Geschehnisse zu lesen. Emily liebte Geschichten, und Aurora bevorzugte Sachbücher.
Hatte
Sachbücher bevorzugt, korrigierte Emily sich, was sie erneut in Tränen ausbrechen ließ. Darin hatten sich die beiden Mädchen unterschieden. Sie waren sich so ähnlich und doch wieder gar nicht ähnlich gewesen.
Mit einem Mal kamen Erinnerungen zurück.
So viele.
Bestürmten Emily, während von draußen Schneeflocken auf die Stadt niedersanken, in wilden Wirbeln tanzten und einen Schleier über London legten. Emily erinnerte sich an alles. An den Geruch der Seife, die Aurora benutzt hatte und die man auf ihrer Haut hatte riechen können. An ihr Lächeln und die Musik, die sie gemocht hatte. Die Levellers mit ihren rasenden Rhythmen und The Clash mit ihren kreischenden Anschuldigungen. An die Kleider, die sie getragen hatte. An die verschlafenen Blicke, wenn der Wecker den neuen Tag ankündigte. An die Cornflakes, die sie immer ohne Milch gegessen hatte, und ihre Abneigung gegenüber der Haut, die sich auf heißer Schokolade bildete.
Erneut fiel Emilys Blick auf die Zeilen in dem Buch.
Das nächste Kapitel.
Die Insel
, hieß es.
Und begann mit den Worten:
Wie gebannt starrten die Männer in Chases Boot nach vorn. Von Hunger und Durst schwer gezeichnet und halb erblindet von der gleißenden See und dem grellen Himmel, waren sie schon mehrmals einer blassen Fata Morgana aufgesessen, und sie fürchteten, auch dieser Anblick könne sich als Trugbild entpuppen.
Vielleicht, dachte sich Emily, ist das ganze Leben ein Trugbild.
Bevor sie diesen Gedanken jedoch vertiefen konnte, bekam sie Gesellschaft.
Peggotty, meine Haushälterin, betrat den Salon. Die alte Peggotty, die alle immer nur Peggotty nannten, obwohl sie, wie Emily mutmaßte, noch einen anderen Namen besaß, war von mir über die misslichen Geschehnisse in Kenntnis gesetzt worden. In ihrem Schlepptau befand sich an diesem Morgen der junge Neil Trent, der in einem grünen Anorak mit Kapuze und schweren Schuhen, die kleine Pfützen auf den Dielen hinterließen, dastand und darauf zu warten schien, dass etwas passierte. Emily fand, dass er wie ein Junge aussah, der geweint hatte, sich diese Schmach aber um nichts in der Welt anmerken lassen wollte.
»Guten Morgen, Miss Emily«, sagte Peggotty.
Und Emily sagte: »Guten Morgen, Peggotty.«
Der Junge hielt seine Wollmütze in Händen und stand verloren neben der großen wie breiten Peggotty.
»Hallo, Neil.« Emilys Stimme war nur ein Flüstern.
»Master Wittgenstein«, sagte Neil mit krächzender Stimme, »war im Laden.«
»Er hat es dir gesagt?«
Neil nickte nur.
Schluckte.
Peggotty sagte: »Ich bringe den Herrschaften Tee.« Es war weder Frage noch Angebot, sondern irgendetwas dazwischen. Es war Peggottys Art zu sagen, dass sie die Dinge in die Hand nahm. Dass sie sich um alles, was in ihrer Macht stand, kümmern würde.
Erst als sich die Tür hinter der Haushälterin geschlossen hatte, trat der Junge näher.
Langsam.
Zögerlich.
Blieb vor Emily stehen und starrte auf das Buch, das noch immer im Schoß des Mädchens lag.
»Aurora wollte das unbedingt lesen«, erklärte er Emily.
Erstaunt begegnete sie dem Blick des Jungen.
»Sie hat es von dir?«
»Nicht wirklich«, antwortete Neil. »Master Micklewhite hat es für sie erstanden.«
»Der Elf?«
»Ja, sie sei zu schüchtern, um selbst in den Laden zu kommen.«
»Das hat er gesagt?«
»Ja, hat er«, sagte Neil und drehte verlegen die Mütze in den Händen herum.
Nur das Knistern der Flammen, die hoch in den Kamin schlugen, war zu hören.
Lange sahen sich die beiden Kinder an.
Eigentlich waren es nur Augenblicke.
Und trotzdem eine Ewigkeit.
Emily fühlte den rauen Einband des Buches in ihren Händen und dachte daran, dass Aurora sich im Waisenhaus nie richtig für Seefahrergeschichten hatte begeistern können.
Die Schatzinsel
und
Robinson Crusoe
waren nicht gerade die Bücher gewesen, die Aurora gemocht hatte.
Sturmhöhe
hatte sie geliebt, aber niemals Melville. Mit einem Mal fragte sich Emily, weshalb ihr vorher nie aufgefallen war, dass ihre Freundin sich für die Seefahrer zu interessieren
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