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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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dich begleite?«, fragte der Junge.
    Einen Moment lang schloss Emily die Augen.
    Dann antwortete sie bestimmt: »Nein.«
    Sie würde allein dorthin gehen.
    Und sie würde es jetzt tun.
    Es war der einzige Ort in ganz London, zu dem es sie hinzog, wenngleich sie die Erinnerung an das große Anwesen mehr als nur ängstigte. Emily Laing hatte nicht die geringste Ahnung, wie Mylady Manderley reagieren würde, wenn sie einfach dort auftauchte.
    Im Grunde gab es jedoch nur einen einzigen Weg, dies herauszufinden.
    Letztens, dachte Emily benommen, da träumte ich, ich wäre wieder in Manderley Manor.
    »Ich muss los!«, sagte sie.
    Neil sah zu, wie sie in ihre blaue Jacke mit dem Pelzkragen schlüpfte und sich die Mütze bis über beide Ohren zog. Sie schulterte den alten Rucksack, nachdem sie das Buch sorgsam darin verstaut hatte.
    »Wünsch mir Glück«, bat sie ihn.
    Neil trat vor sie und fast schon dachte Emily, er wolle ihr einen Kuss auf die Wange drücken. Stattdessen zupfte er eine Strähne ihres roten Haars unter der Mütze hervor, sodass sie über dem Mondsteinauge baumelte.
    Emily lächelte zaghaft.
    »Pass auf dich auf«, sagte Neil.
    Dann rannte Emily hinaus ins Schneegestöber.
    Little Neil, der ihr hinterherblickte, bis sie in den wirbelnden Flocken verschwunden war, flüsterte leise: »Pass bloß auf dich auf.« Dann verließ auch er das Anwesen in Marylebone.
    Es gab keinen Grund mehr, länger dort zu verweilen.

Kapitel 5
Mylady Eleonore Manderley
    So führten mich meine Schritte erneut nach Manderley Manor. Kurz stand ich vor dem gusseisernen Tor, und ein Gefühl, als träumte ich, beschlich meinen müden Geist. Das graue Gemäuer mit seinen Erkern und Türmen, auf denen frisch gefallener Schnee lag, wirkte tatsächlich, als sei es einem Traum entsprungen. Die Bäume reckten ihre kahlen Äste über den Torweg, der zum Haus führte, als behüteten sie die Geheimnisse, die Häuser dieser Art seit uralten Zeiten zu hegen pflegten. Der Vollmond tauchte das Anwesen in fahles Licht. Eine Wolke schob sich sogleich davor und gaukelte dem Auge Dinge vor, die gar nicht da waren. Silhouetten bewegten sich hinter den langen Vorhängen, und warmer Kerzenschein zauberte phantastische Bilder in die Nacht.
    Aus freiem Willen hatte Emily Laing sich hierher begeben.
    »Sie ist einfach so davongelaufen«, hatte mir Peggotty schuldbewusst und bekümmert verkündet, als ich nach Marylebone zurückgekehrt war.
    »Und Sie haben sie nicht aufhalten können?«
    Die alte Haushälterin dachte nicht daran, mir zu antworten.
    Zog nur ein Gesicht.
    Doch war nicht ich derjenige, der es besser hätte wissen müssen?
    Oh, dieses Kind!
    Emily Laing war nun einmal ein starrköpfiges Mädchen. So einfach war das. Letzten Endes war es wohl mein Fehler gewesen, sie allein in der Obhut Peggottys zurückzulassen. Ihr Neil Trent als Beistand vorbeizuschicken, meine Güte! Was immer die beiden besprochen hatten, es hatte offenbar nicht dazu beigetragen, meine Schutzbefohlene zu beruhigen. Durch den Schneesturm, der seit Stunden die Stadt heimgesucht hatte, war sie zum Regent’s Park geeilt, wo ihre Füße kleine Abdrücke im tiefen Schnee hinterlassen hatten.
    »Ich glaube«, hatte Peggotty gemutmaßt, »sie wollte zu ihrer Familie.«
    Ach nein?
    Einfacher würde dieses Verhalten die ganze Angelegenheit jedenfalls kaum machen.
    Ich stand vor dem Tor, und vor mir erhob sich das graue Gemäuer von Manderley Manor. Dicke Schneeflocken wirbelten durch die Dunkelheit und fingen das Mondlicht ein. Weihnachten sollte Schnee liegen, dachte ich benommen und schritt die breiten Treppenstufen hinauf. Düster dreinblickende Wasserspeier starrten von den Dachsimsen auf mich herab und beobachteten jeden meiner Schritte. Flackernde, gusseiserne Gaslaternen erhellten spärlich die Pforte, an die ich zum letzten Mal vor einem Jahr geklopft hatte, um die kleine Mara nach Hause zu bringen.
    Man öffnete mir, noch bevor ich um Einlass hatte bitten können.
    »Mylady erwartet Sie«, begrüßte mich ein hagerer Hausdiener.
    Förmlich nannte ich meinen Namen.
    Eine hoch gewachsene Gestalt schälte sich aus den Schatten, die die lange, gewundene Treppe im Inneren des Hauses umfingen. Mylady Manderley, die Hausherrin, die mit hochgestecktem, schneeweißem Haar auf einen Stock gestützt hoch oben auf der Treppe stand, wie sie es auch vor einem Jahr getan hatte. Dann vernahm ich das Getrippel hastiger Schritte auf den Stufen, und bevor ich erkennen konnte, was da auf mich

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