Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
sie in einen Salon.
Ein riesiger Raum war es, der einstmals prächtig gewesen sein musste, doch jetzt verlassen wirkte. Ein loderndes Kaminfeuer prasselte und füllte den Raum mit einer wohligen Wärme. Kerzen ließen unruhig flackernd Schatten durch den Raum tanzen. Spinnweben zierten auch hier die tiefen Ecken und versteckten Winkel. Neben dem Kamin stand ein großer Tisch, auf dem außer einer Tasse und einer aktuellen Ausgabe der
Times
nichts lag … und die Schicht feinen, hellen Staubes, die sich auf der Tischplatte gebildet hatte, sprach dafür, dass während der vergangenen Monate ebenfalls kaum etwas auf dem Tisch gestanden hatte.
Es schauderte Emily.
Ich bin in einem Geisterhaus gelandet, dachte sie.
Mylady Manderley nahm in einem riesenhaften Ohrensessel Platz, der am Kaminende stand.
»Was soll ich jetzt mit dir anfangen?«, fragte sie das Kind.
Emily schwieg.
»Warum bist du hergekommen?«
»Ich wollte endlich …«
Die Alte schnitt ihr das Wort mit einer wütenden Handbewegung ab. »Sprich es nicht aus, Kind!«, herrschte Mylady Emily an, die vor Schreck einen Schritt zurückgetreten war.
Ich wollte endlich meine Familie kennen lernen. Das war es, was sie hatte sagen wollen.
Die stahlblauen Augen der alten Frau wirkten mit einem Mal sehr müde.
»Ich wollte nicht unhöflich sein«, stotterte Emily.
Mylady winkte ab. »Du bist eben ungeschickt«, sagte sie nur.
Die knochigen alten Finger umspielten den silbernen Knauf des Gehstocks.
»Was soll ich nur mit dir machen?«
Emily ahnte, dass diese Frage nicht an sie gerichtet war.
Schreckliches Schweigen erfüllte den Raum.
Bis Mylady nach einer Weile sprach. Die ganze Zeit über hatte sich Emily nicht vom Fleck bewegt. Noch immer stand sie regungslos da, und der Schnee an ihren Schuhen hatte kleine Pfützen auf dem Teppich gebildet. Und als Mylady sprach, da glaubte Emily endgültig, den Halt zu verlieren. Ihr war, als müsse sie auf den Teppich niedersinken, so schwach fühlten sich ihre Beine an. »Du hast seine Augen.« Das war es, was Mylady Manderley sagte. »Du hast die Augen deines unnützen Vaters. Die Augen des Bohemiens, der meiner Tochter den Kopf verdreht hat.« Verbitterung schwang in der Stimme mit, die brüchig und boshaft klang und allzeit nach Vergeltung zu suchen schien.
Doch bevor Emily etwas erwidern konnte, wurde die Tür aufgestoßen.
»Ah, Miss Anderson«, murmelte die alte Frau, die als Großmutter zu bezeichnen für Emily noch immer unmöglich war.
Eine hoch gewachsene, mürrisch gouvernantenhafte Dame unbestimmten Alters mit pechschwarzem Haar, welches sie zu einem Knoten gebunden hatte, stand dort im Türrahmen und blickte höchst abfällig auf den Gast. Wie Mylady selbst trug auch die Frau, die Emily schon einmal im Hyde Park samt Mara und Kinderwagen gesehen hatte, ein pechschwarzes, hochgeschlossenes Kleid, das bis zum Boden reichte und den Eindruck erweckte, als müsse sie darin ersticken.
»Sie wirkte durch und durch böse«, gestand mir Emily später.
Pechschwarz eben.
Miss Judith Anderson unterstand der Haushalt.
Und wirklich alles an ihr wirkte pechschwarz. Selbst die Augen, die nur schmale Schlitze waren und immer den Eindruck erweckten, als lägen sie auf der Lauer. Dürre Finger, die in pechschwarzen Handschuhen steckten, schoben ein kleines Mädchen in den Raum.
»Mara!«, entfuhr es Emily, ohne die Freude in ihrer Stimme ganz verbergen zu können.
Missbilligend ob dieser Gefühlswallung zog Miss Anderson eine Augenbraue hoch.
Eine Geste, die die Luft förmlich gefrieren ließ.
Doch hatte Emily in diesem Moment nur Augen für das kleine Mädchen mit den hellen Augen und den roten Haaren, das da ganz scheu und vorsichtig in den Salon lugte. Mara hatte sich verändert, seitdem Emily sie zum letzten Mal gesehen hatte. In Rotherhithe, als Emily zum ersten Mal im Schlafsaal der Neuzugänge auf sie getroffen war, da war sie noch viel kleiner gewesen als jetzt. Ein richtiges Kleinkind. Als sie sich vor einem Jahr von ihr hatte trennen müssen, da hatte Emily bereits geahnt, dass die Kleine ihr fehlen würde. Und jetzt war Mara ein kleines Kind und kein Kleinkind mehr. Ein kleines Kind, das mit den unsicheren Schritten einer Dreijährigen auf sie zuwankte, mitten durch den großen Salon hindurch, wo die fratzenhaften Ahnenbilder derer von Manderley die Wände schmückten. Wie seltsam es doch war, die kleine Schwester so vor sich zu sehen. Endlich! Kannte sie Mara bisher doch nur aus den Gedanken und
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