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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Träumen, die die Kinder miteinander geteilt hatten.
    Maras Haar, das im Schein des Kaminfeuers rötlich schimmerte, war kurz geschnitten und trotzdem zerwuselt und ließ bereits die Locken erkennen, die dereinst das Haupt der Kleinen schmücken würden. Sie trug ein schwarzes Kleidchen und schwarze Schuhe. Es war, als habe man die Erscheinung des Kindes jeglicher Farben beraubt. Selbst ihre hellen, blauen Augen leuchteten nur matt. Irgendwie verhalten.
    Instinktiv kniete Emily sich hin, als Mara auf sie zugelaufen kam.
    Dass Mara sie erkannte, bezweifelte sie keine Sekunde lang.
    Enttäuscht musste sie jedoch feststellen, dass ihr die Schwester keineswegs freudig in die Arme fiel; nein, sie hielt plötzlich inne und betrachtete Emily eingehend, als sei sie eine Fremde. Verwirrt dachte Emily, dass Mara sie doch aus den Träumen kennen musste.
    »Hallo«, sagte Emily.
    Wollte ihr vorsichtig die Hand reichen.
    Mara schwieg.
    Betrachtete die Hand, die sich ihr da entgegenstreckte.
    Misstrauisch wich sie einen Schritt zurück und beobachtete Emilys Reaktion. Dann hob sie kurz die Hand, als wolle sie ihrer Schwester zuwinken.
    »Ich bin Emily«, versuchte sie es aufs Neue, lächelte unsicher und fügte flüsternd hinzu: »Du hast doch von mir geträumt.«
    Mara legte den Kopf schief und starrte ihre Schwester an.
    Dann kam sie wieder auf Emily zu.
    Streckte die Hand aus und berührte mit den kleinen Fingerchen das rote Haar ihrer großen Schwester. Neugierig ließ sie die Strähne, die Emily sanft über das Auge fiel, durch die Finger gleiten. Dann fiel ihr Blick auf das Mondsteinauge. Fasziniert streckte sie die Hand danach aus. Scheute sich jedoch, es zu berühren. Ruckartig wurde die kleine Hand zurückgezogen. Fast schon fragend sah sie Emily an und deutete erneut auf das Auge, auf dessen Oberfläche sich das flackernde Feuer spiegelte. Ihr Mund formte ein O, und sie riss die Augen weit auf, ganz fasziniert.
    »Das ist ein Mondsteinauge«, erklärte Emily geduldig. »Du darfst es anfassen, wenn du möchtest.«
    Erneut legte Mara den Kopf schief und rümpfte die Nase.
    Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
    Mylady Manderley sagte: »Sie kann nicht sprechen.«
    Emily erschrak. »Wie meinen Sie das?«
    Mylady Manderley seufzte. »Sie spricht niemals. Mit niemandem.«
    Mara musterte ihre Großmutter traurig.
    »Aphasia voluntaria«, sagte Miss Anderson kühl.
    Emily hatte keine Ahnung, was sie meinte.
    »Es ist eine freiwillige Stummheit«, erklärte Mylady Manderley mit leiser, mitleidvoller Stimme. »Sie schreit nicht. Sie lacht nicht. Sie flüstert nicht. Ja, sie hustet nicht einmal. Sie gibt keinen einzigen Laut von sich. Mutismus-Syndrom. Das ist der medizinische Ausdruck, den die ratlosen Ärzte gebrauchen.«
    Mara rümpfte die Nase, als ahnte sie, dass über sie gesprochen wurde.
    Dann zwinkerte sie Emily zu. Kniff beide Augen zusammen. Öffnete sie wieder.
    Tat einen Schritt vorwärts.
    Dann noch einen.
    Sie war jetzt so nah, dass Emily ihren Atem riechen konnte.
    Vanille, dachte sie unwillkürlich. Mara riecht nach Vanille.
    Vanille und Erdbeere.
    Aber nicht glücklich.
    Mara hielt sich in einer theatralisch anmutenden Geste die Hand vor den Mund, und im ersten Augenblick dachte Emily, die Kleine müsse gähnen. Doch dann gab Mara sich selbst einen Kuss auf die Handfläche, hielt diesen fest und legte ihn behutsam auf Emilys Wange, die sich ganz kalt anfühlen musste. Sie lächelte nicht, als sie das tat, doch sah sie ihrer großen Schwester dabei ganz tief in die Augen. Und ließ die Hand auf Emilys Wange ruhen.
    Emily lächelte und ohne nachzudenken nahm sie die kleine Hand ihrer Schwester, legte ebenfalls einen Kuss hinein und führte die Hand zurück zu dem ernsten Gesicht mit den beiden gesunden, hellblauen Augen, die aufleuchteten, als sie erkannten, was Emily da tat.
    Zustimmend und scheinbar zufrieden nickte Mara.
    Trat noch einen Schritt näher.
    Legte ihren Kopf seitlich an Emilys Brust.
    Seufzte lang gezogen.
    Und Emily schloss sie in die Arme, wie es nur eine große Schwester zu tun vermochte.
    »Sie kennt mich«, sagte Emily. »Aus ihren Träumen.«
    Miss Anderson wurde ganz bleich, als Mylady Manderley mit einem Mal der Gehstock aus der zitternden Hand fiel. Die beiden Erwachsenen starrten die Kinder an, als habe sich soeben die ganze Welt ein Stück zu weit gedreht.
    »Was hast du da gesagt, Kind?« Mylady wirkte unsicher.
    »Mara kennt mich aus ihren Träumen.«
    Miss Anderson und Mylady

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