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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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das Mädchen zu. Sie lächelte nicht, sondern starrte das Kind nur an.
    »Emily Laing«, stellte sich Emily erneut vor und erschrak beim Klang ihrer eigenen Stimme, die in einem dumpfen Echo von den Wänden zurückgeworfen wurde.
    »Du kannst deine Herkunft kaum verleugnen«, meinte die alte Frau und sie sagte es in keinem netten Tonfall.
    Ganz nah kam sie heran und betrachtete Emily.
    Die sich, nebenbei bemerkt, nicht zu regen traute.
    Mylady Manderley war so nah, dass Emily ihren Atem spüren konnte.
    Ganz gefangen war sie im Blick der alten Frau, die ein hochgeschlossenes, schwarzes Kleid trug, das ihrem Wesen noch mehr Strenge verlieh, als es die abfällig herabgezogenen Mundwinkel und der stechende Blick über die randlose Brille hinweg ohnehin schon taten.
    »Du siehst aus wie er«, stellte Mylady Manderley mit kalter Stimme fest.
    »Wie wer?«, entfuhr es Emily.
    »Wie dein Vater, dummes Ding«, gab sie barsch zur Antwort.
    »Sie haben ihn gekannt?«
    »Was glaubst denn du?«
    Der ungewöhnlich lange Wortwechsel überraschte beide.
    »Sie sind meine Großmutter.« Unsicher kamen die Worte hervorgekrochen.
    Mylady Manderley musterte das Mädchen streng und nickte schließlich. Langsam. Bedächtig.
    »Eleonore Manderley«, stellte sie sich vor.
    Ganz förmlich.
    Reichte ihrer Enkelin die knochige Hand.
    »Warum bist du hergekommen?«, fragte Mylady Manderley schroff.
    Emily, die ihre Tränen kaum mehr zurückhalten konnte, murmelte mit erstickter Stimme: »Ich wusste nicht mehr, wohin.« So vieles hätte sie diesen Worten hinzufügen können, doch sagte sie nichts von alledem. Stattdessen wiederholte sie die Antwort, die sie ihrer Großmutter bereits gegeben hatte: »Ich weiß einfach nicht mehr, wohin.« Dann kamen die Tränen.
    Mylady Manderley stand stocksteif da.
    Betrachtete das weinende Mädchen in der blauen Jacke.
    Grübelte.
    Dann reichte sie Emily ein elegantes Taschentuch. »Putz dir die Nase, Kind«, befahl sie. »Und folge mir.« Ohne eine Reaktion des Mädchens abzuwarten, drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf.
    Emily blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    »Sie hat mir eine Heidenangst eingejagt«, gab Emily später zu.
    Freundlichkeit hatte Mylady Manderley tatsächlich nicht im Mindesten erkennen lassen. Während sie ihre Enkelin, die sie mitnichten als solche bezeichnet hätte, die gewundene Treppe hinauf und durch ein Labyrinth an Korridoren geführt hatte, deren lange Schatten dem Mädchen aus den Träumen und Gedanken ihrer Schwester bekannt waren, war Emily immer unwohler zumute geworden. War die Entscheidung, hierher zu kommen, doch nicht richtig gewesen? Was sollte sie nun tun? Mylady Manderley, die ganz offensichtlich nichts mit ihr zu tun haben wollte, durchschritt die Korridore, an deren Wänden Bilder voller verworrener Farbspiele hingen, ohne sich nach dem Kind umzudrehen, das ihr in kurzem, aber gebührendem Abstand folgte. Die Kälte, die Emily hier verspürte, war schlimmer als jene, die ihr draußen im Regent’s Park ins Gesicht geschlagen war. Dies hier war eine andere Kälte.
    »Es war«, versuchte sie es mir später zu erklären, »als habe es seit Jahren in diesem Haus keine Gefühle mehr gegeben.«
    Gusseiserne Kerzenhalter ragten verkrüppelten Armen gleich aus den Wänden der Korridore. Spinnweben zierten die Ecken. Staubkörnchen wirbelten unruhig in der Luft. Emilys nervöser Atem verwandelte sich in Nebelwölkchen, die unruhig vor dem Gesicht des Mädchens tanzten.
    »Fast war es so«, würde Emily zu beschreiben fortfahren, »als lebte dort eigentlich niemand mehr.«
    An manchen Räumen kamen sie vorbei, deren Türen offen standen, und Emily bemerkte, dass die Möbelstücke unter weißen Laken versteckt waren.
    »Früher gab es oft Empfänge in diesen Mauern«, hörte sie Mylady Manderley sagen, »doch diese Zeiten sind vorbei.« Alt und brüchig klang die Stimme ihrer Großmutter.
    Emily wusste nicht recht, ob die alte Frau eine Antwort auf ihre Bemerkung erwartete.
    Letzten Endes beschloss Emily zu schweigen.
    »Wenn Sie nicht wissen, was Sie sagen sollen«, hatte ich ihr einst geraten, »dann halten Sie am besten den Mund.«
    Mylady Manderley zeigte keinerlei Regung.
    Schritt hoch erhobenen Hauptes weiter.
    Die Schuhe mit den hohen Absätzen schabten über den Teppichboden.
    »Es kam mir vor«, sollte Emily mir später sagen, »als gäbe es längst kein Leben mehr in diesem Haus.«
    Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt.
    Mylady führte

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