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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Innern lebte fort. Neugeborene hielten hartnäckig an ihrem warmblütigen Dasein fest, ganz so, als ob sich nichts verändert hätte. Wie lange es wohl dauerte, bis sie wurden wie die Vampirmetzen, die der Prinzgemahl aus dem Land jenseits der Berge herbeigeschafft hatte, bestrumpfte Begierde, die ohne Sinn und Verstand auf Raub ausging?
    Geneviève strich ihre Manschetten glatt und wandte sich mit leicht ausgestreckten Armen zu Lestrade um. Eine aus vielen Leben ohne Spiegel geborene Gewohnheit, immerzu ein Urteil über ihr Äußeres einholen zu müssen. Missmutig bekundete der Kriminalbeamte seine Zustimmung. Sie raffte einen Kapuzenmantel um ihre Schultern und verließ, gefolgt von Lestrade, das Zimmer.
    Die Gaslampen auf dem Flur waren schon entzündet. Draußen erstickte heraufziehender Nebel die letzten Sonnenstrahlen. Durch ein offenes Fenster drang kühle Luft herein. Geneviève
schmeckte das Leben darin. Sie musste frische Nahrung finden, binnen zwei oder drei Tagen. So war es jedes Mal nach ihrer Ruhezeit.
    »Die gerichtliche Untersuchung im Falle Schön ist für den morgigen Abend anberaumt«, sagte Lestrade, »im Arbeiterverein. Es wäre von Vorteil, wenn Sie dabei sein könnten.«
    »Sehr gern, aber darüber muss ich mich erst mit dem Direktor besprechen. Schließlich brauche ich einen Vertreter, der währenddessen meine Pflichten wahrnimmt.«
    Sie waren auf der Treppe. Das Haus erwachte zum Leben. Einerlei, welche Veränderungen der Prinzgemahl in London auch herbeiführte, Toynbee Hall - begründet von Reverend Samuel Barnett zu Ehren des verstorbenen Philanthropen Arnold Toynbee - war unentbehrlich. Die Armen benötigten Obdach, Nahrung, ärztliche Hilfe und Unterricht. Den aller Möglichkeit nach unsterblichen, hilf- und mittellosen Neugeborenen erging es kaum besser als ihren warmblütigen Brüdern und Schwestern. Vielen unter ihnen war das East End letzter Zufluchtsort. Geneviève fühlte sich wie Sisyphos, der bis in alle Ewigkeit einen Felsblock den Berghang hinaufwälzte, als falle sie mit jedem Schritt nach vorn drei Schritte zurück.
    Auf dem Treppenabsatz im ersten Stockwerk saß ein kleines dunkelhaariges Mädchen mit einer Stoffpuppe auf dem Schoß. Einer ihrer Arme war verschrumpft, und darunter hing ein faltiger Klumpen ledriger Membranen. Ihr schmutzfarbenes Kleid hatte man aufgetrennt, um ihr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Lily lächelte; ihre spitzen Zähne waren schief verwachsen.
    »Gené«, sagte Lily, »schau nur …« Lächelnd streckte sie den spindeldürren Arm aus. Er wurde länger, kräftiger; der behaarte, graubraune Hautsack straffte sich. »Ich hab mit meinen Flügeln geübt. Bald flieg ich bis zum Mond und wieder zurück.«
    Geneviève wandte sich ab und sah, dass auch Lestrade interessiert
die Deckentäfelung betrachtete. Sie kehrte sich wieder zu Lily um, ging in die Knie und streichelte ihren Arm. Die dicke Haut fühlte sich unecht an, als wollten die Muskeln darunter in entgegengesetzte Richtungen ziehen. Weder Ellbogen noch Handgelenk griffen eigentlich ineinander. Vlad Tepes konnte mühelos seine Gestalt wandeln, die Neugeborenen von seinem Geblüt hingegen hatten den Kniff noch nicht heraus. Was sie jedoch nicht daran hinderte, es immer wieder zu versuchen.
    »Ich bring dir ein bisschen Käse mit«, sagte Lily, »als Geschenk.«
    Geneviève strich über Lilys Haar und erhob sich. Die Tür des Direktorzimmers stand offen. Sie trat ein, klopfte im Vorübergehen mit dem Fingerknöchel gegen das Holz. Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch und besprach mit Morrison, seinem Sekretär, den Stundenplan. Der Direktor war recht jung, und noch floss warmes Blut in seinen Adern, doch sein Gesicht war zerfurcht, das Haar mit grauen Strähnen durchsetzt. Viele derer, die die Verwandlung vollzogen hatten, sahen aus wie er, älter als sie eigentlich waren. Lestrade folgte Geneviève in die Amtsstube. Der Direktor erwiderte den Gruß des Beamten. Morrison, ein stiller junger Mann mit einem Faible für japanische Drucke und die Literatur, trat in den Schatten zurück.
    »Jack«, sagte sie, »Inspektor Lestrade möchte, dass ich morgen einer gerichtlichen Untersuchung beiwohne.«
    »Es hat wieder einen Mord gegeben«, erwiderte der Direktor, mehr eine Feststellung denn eine Frage.
    »Eine Neugeborene«, sagte Lestrade. »In der Chicksand Street.«
    »Lulu Schön«, ergänzte Geneviève.
    »War sie uns bekannt?«
    »Gut möglich, wenn auch wahrscheinlich unter einem anderen

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