Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
Vom Netzwerk:
Weg sie, statt durchs Leben, durch den Tod führt.«
    Dr. Abraham Van Helsing

1
    Im Nebel
    Dr. Sewards Tagebuch
(auf einem Phonographen festgehalten)
     
    17. SEPTEMBER
     
     
    D ie Entbindung der vergangenen Nacht ging leichter als die anderen. Viel leichter als die der vergangenen Woche. Mit ein wenig mehr Übung und Geduld geht womöglich alles leichter. Wenn auch niemals leicht. Niemals … leicht.
    Pardon: Es fällt schwer, in geordneten Bahnen zu denken, und dieser staunenswerte Apparat ist unversöhnlich. Weder kann ich gar zu voreilig gesetzte Worte mit Tinte ausstreichen noch eine missratene Seite aus der Heftung reißen. Die Walze dreht sich, die Nadel graviert, und mein weitschweifiger Monolog ist auf alle Zeit unbarmherzig in Wachs eingegraben. Staunenswerte Apparate sind, wie Wunderheilmittel, mit unvorhersehbaren Nebenwirkungen behaftet. Womöglich werden im zwanzigsten Jahrhundert neuartige Verfahren, die Gedanken der Menschen festzuhalten, zu einer Lawine unnützen Geredes führen. Brevisesse
laboro, wie es schon bei Horaz so treffend heißt. Ich weiß, wie eine Krankengeschichte vorgetragen werden muss. All dies wird für die Nachwelt von Interesse sein. Einstweilen arbeite ich jedoch in camera und verwahre die mir verbliebenen Walzen mit den Aufzeichnungen meiner früheren Berichte an einem geheimen Ort. Wie die Dinge stehen, liefe ich Gefahr an Leib und Leben, würden diese Journale der Öffentlichkeit zu Gehör gebracht. Eines Tages aber hoffe ich meine Motive und Methoden vor aller Welt bekanntgemacht zu sehen.
    Nun denn.
    Subjekt: weiblich, dem Anschein nach über die zwanzig. Noch nicht sehr lange tot, würde ich meinen. Beruf: unverkennbar. Ort: Chicksand Street. Ecke Brick Lane, der Flower & Dean Street gegenüber. Zeit: kurz nach fünf Uhr ante meridiem.
    Ich war gut eine Stunde im Nebel, dick wie saure Milch, umhergewandert. Der Nebel ist meinen nächtlichen Geschäften in höchstem Maße förderlich. Je weniger man sieht von dem, wozu die Stadt in diesem Jahr verkommen ist, desto besser. Wie so viele habe ich mir die Gewohnheit zu eigen gemacht, tags zu schlafen und nachts zu arbeiten. Meist falle ich in einen leichten Dämmer; es scheint Jahre her, dass ich zuletzt die Wonnen wirklichen Schlafes genossen habe. Dunkle Stunden sind zu wachen Stunden geworden. Aber das war hier in Whitechapel eigentlich nie anders.
    In der Chicksand Street hängt eine jener verfluchten blauen Gedenktafeln, an Nummer 197, einem der Schlupfwinkel des Grafen. Dort standen sechs Kisten voller Erde, denen er und Van Helsing solch abergläubische und, wie es sich ergab, unberechtigte Bedeutung beimaßen. Lord Godalming sollte sie vernichten; doch wie so oft erwies sich mein adeliger Freund als der Aufgabe nicht gewachsen. Ich stand, unfähig, die Inschrift zu entziffern, vor der Tafel und sann über unser Scheitern nach, als das tote Mädchen meine Aufmerksamkeit zu erregen suchte.

    »Mister …«, rief es. »Missssster …«
    Wie ich mich umwandte, ließ es seine Federboa auf die Schultern sinken. Hals und Busen waren weiß wie Schnee. Eine lebende Frau hätte gezittert vor Kälte. Sie stand unter einer Treppe, die zu einer Tür im ersten Stockwerk hinaufführte, über der eine rote Laterne brannte. Hinter ihr, von den Stufen mit Balken verschattet, befand sich eine zweite Tür, auf halber Höhe unter dem Trottoir. Weder in diesem noch einem anderen in Sehweite gelegenen Haus schien eine Lampe. Wir weilten auf einer helllichten Insel in einem dunsttrüben Meer.
    Ich ging quer über die Straße, und meine Stiefel rührten den tiefliegenden Nebel in fahlgelben Wirbeln auf. Es war niemand in der Nähe. Zwar hörte ich Passanten, doch standen wir wie hinter einem Vorhang. Bald sollten die ersten Dornen der Dämmerung auch die letzten Neugeborenen von den Straßen vertreiben. Das tote Mädchen war für seinesgleichen noch spät auf den Beinen. Gefährlich spät. Seine Sucht nach Geld, nach Trunk, war offenbar immens.
    »Was für ein hübscher Gentleman«, girrte die junge Frau. Sie wedelte mit der Hand, und ihre spitzen Nägel rissen Nebelschwaden in Fetzen.
    Ich bestrebte mich, ihr Gesicht auszumachen, und wurde belohnt mit einem Anblick hagerer Niedlichkeit. Sie legte den Kopf ein wenig schief, um mich zu betrachten, und eine Strähne pechschwarzen Haars fiel von ihrer weißen Wange. In ihren schwarzroten Augen stand Interesse - und Verlangen. Sowie eine Art von halb gewahrem Amüsement, das direkt an Verachtung

Weitere Kostenlose Bücher