Die verbannte Braut (German Edition)
kam. Oder beides. Der Schock über den plötzlichen Verlust hatte mich fest im Griff und ich war wie gelähmt. Nein! Wie eingefroren! Starr! Mit einem Schlag hatte ich beide Eltern verloren und stand nun vollkommen allein da. Meine Eltern, William und Morgan Graham, befanden sich mit ihrer Kutsche auf dem Heimweg von London, wo unsere Familie mehrere Juweliergeschäfte und ein Warenhaus besaß, als sie von Banditen überfallen und getötet worden waren. Ich war ein Einzelkind und der einzige Verwandte, den ich nun noch hatte, war James Atkins, ein Schwager meines Vaters. Der Mann meiner verstorbenen Tante Anne. Ich hatte Onkel James zuletzt gesehen, als ich etwa sieben Jahre alt gewesen war, und hatte kaum Erinnerungen an ihn. Er würde von nun an als mein Vormund auftreten, da ich noch nicht volljährig war. Morgen sollte er auf Blue Hall, dem Landsitz unserer Familie, eintreffen. Blue Hall war ein Haus mit zahlreichen Erkern und Balkonen, reich mit Ornamenten verziert. Es besaß zehn Schlafräume, einen großen und einen kleinen Salon, das Arbeitszimmer meines Vaters, fünf Badezimmer, eine Küche und diverse Wirtschaftsräume sowie die Dienstbotenzimmer unter dem Dach. Es war mir stets mehr ein Zuhause gewesen, als das Londoner Stadthaus. Ich liebte das Land, ritt gern stundenlang über Wiesen und Felder und ließ mir den Wind um die Nase wehen.
Nachdem Tante Anne verstorben war, hatte Onkel James die letzten zehn Jahre in Paris und Amsterdam verbracht, wo er mit erlesenen französischen Weinen und Spirituosen handelte. Ich hatte von meinen Eltern noch vor nicht langer Zeit vernommen, dass die Geschäfte meines Onkels wohl nicht zum Besten standen. Offenbar lebte er auf großem Fuß und hatte einen Hang zum Spielen und zu Bordellen. Ich hatte einmal gehört, wie Vater sich mit einem Freund über die Eskapaden meines Onkels unterhalten hatte. Mein Vater hatte nie viel vom Gatten seiner Schwester gehalten, weswegen Onkel James auch kein sehr häufiger Besucher gewesen war. Erst recht nicht, seit Tante Annes Tod.
Wie ein schlechter Traum zog die Beerdigung an mir vorüber. Auch den anschließenden Leichenschmaus nahm ich kaum wahr. Die Bediensteten erledigten alle erforderlichen Aufgaben auch ohne Anweisungen. Sie wussten, was sie zu tun hatten. Ich fühlte mich nicht imstande, mich um die Bewirtung der zahlreichen Besucher zu kümmern. Ja, es interessierte mich nicht einmal, ob alles funktionierte oder nicht. Ich war, wie bereits gesagt, nicht mehr Teil dieser Welt.
Meine Eltern hatten sich in den besten Kreisen bewegt und viele angesehene Persönlichkeiten waren zur Beisetzung und dem Leichenschmaus erschienen. Obwohl nicht vom Adel, hatte mein Vater durch seinen geschäftlichen Erfolg unsere Familie in die obere Gesellschaftsschicht gebracht. Vater war ein Arbeitstier und ehrgeizig. Er hatte aus dem einzigen Juweliergeschäft seines Vaters ein kleines Imperium geschaffen. Meine Mutter, immer ein wenig zu ruhig und farblos, war so sehr das Gegenteil von meinem Vater gewesen, dass ich nie verstanden hatte, wie sie zueinandergefunden hatten. Sicher, Mutter war sehr schön gewesen. Wie eine kostbare, zerbrechliche Porzellanpuppe mit zarten Gliedmaßen und großen Augen. Ich hatte sie geliebt, jedoch selten umarmt. Sie erschien mir stets zu sehr wie ein Geschöpf aus einem Feenhügel. Wir waren uns leider nie wirklich nah gekommen. Meinen Vater dagegen hatte ich trotz seiner Härte über alles geliebt. Wir teilten die Leidenschaft für die Pferde und für die Jagd. Er hatte zwar viel Zeit geschäftlich in London verbracht, fühlte sich jedoch genau wie ich auf dem Land am Wohlsten. Wie sehr ich ihn vermisste. Würde dieser furchtbare Schmerz je nachlassen?
*
Nachdem endlich alle Gäste gegangen waren, ließ ich mich von Lucie, meiner alten Amme, auf mein Zimmer im Südflügel des Hauses führen. Ich hatte mich in diesem Zimmer immer sehr wohl gefühlt. Die beiden großen Fenster ließen viel Licht hinein und die gelben Vorhänge sorgten für eine sonnige Atmosphäre. An einer Wand hing ein großes Gemälde von mir im Alter von zwölf auf dem Rücken meiner ersten eigenen Stute; mein Lieblingshund George saß neben dem Pferd und hatte den Kopf schief gelegt. Ich hatte tagelang geweint, als der Hund von einem Keiler tödlich verletzt worden war. Damals war ich vierzehn gewesen. Nun schenkte ich all dem keine Beachtung. Teilnahmslos ließ ich geschehen, dass meine Zofe Marie, ein unscheinbares Mädchen von sechzehn,
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