Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
Vom Netzwerk:
abholen würde. Ich öffnete die Eingangstür und trat hinaus. Es war ein nebliger Morgen in San Francisco. Der Betonboden der Veranda fühlte sich unter meinen nackten Füßen kühl an. Nachdenklich blieb ich stehen. Eigentlich hatte ich eine Retourkutsche für die Mädchen geplant, etwas Kränkendes und Hasserfülltes. Aber ich war seltsam nachsichtig gestimmt. Vielleicht lag es daran, dass ich nun achtzehn war und mit einem Schlag alles ausgestanden hatte, jedenfalls konnte ich ihnen ihren üblen Streich verzeihen. Deshalb wollte ich ihnen, bevor ich ging, etwas mitteilen, das die Angst aus ihren Augen vertrieb.
    Also spazierte ich die Fell Street hinunter zur Market Street. Als ich eine belebte Kreuzung erreichte, wurde ich langsamer, denn ich hatte noch nicht entschieden, wohin ich wollte. An einem gewöhnlichen Tag hätte ich Sommerblumen im Duboce Park gepflückt, die Brachfläche Ecke Page Street und Buchanan Street geplündert oder auf dem Straßenmarkt Kräuter gestohlen. Fast zehn Jahre lang hatte ich jede freie Minute damit verbracht, mir die Bedeutung und wissenschaftliche Beschreibung der verschiedenen Blumen einzuprägen, auch wenn ich dieses Wissen kaum nutzte. Wieder und wieder verwendete ich die gleichen Blumen. Ein Strauß Ringelblumen:
Trauer
. Ein Eimer Disteln:
Menschenfeindlichkeit
. Eine Prise getrocknetes Basilikum:
Hass
. Nur gelegentlich änderte ich meine Botschaften. Eine Hosentasche voller roter Nelken für die Richterin, als ich begriff, dass ich nie wieder in den Weinberg zurückkehren würde; und Pfingstrosen für Meredith, sooft ich welche auftreiben konnte. Nun suchte ich die Market Street nach einem Blumengeschäft ab und blätterte dabei in Gedanken in meinem Wörterbuch.
    Drei Häuserblocks weiter stieß ich auf einen Getränkeladen, wo in Papier gewickelte Sträuße in Eimern unter den vergitterten Fenstern vor sich hin welkten. Ich blieb vor dem Laden stehen. Da die meisten Sträuße gemischt waren, vermittelten sie widersprüchliche Aussagen. Die Auswahl an Gebinden, die nur aus einer Blumensorte bestanden, war gering: gewöhnliche Rosen in Rot oder Rosa und ein schlaffer Strauß gestreifter Nelken. Ein Büschel violetter Dahlien quoll aus einem Papierhörnchen:
Würde
. Sofort wusste ich, dass das meine Botschaft war. Ich drehte mich mit dem Rücken zu dem schräg hängenden Spiegel über der Tür, schob die Blumen unter meine Jacke und rannte los.
    Als ich zu dem Haus zurückkam, war ich außer Atem. Das Wohnzimmer war leer, und ich trat ein, um die Dahlien auszupacken. Die Blumen ähnelten formvollendeten Sternen, Schicht um Schicht violetter Blütenblätter mit weißem Rand, die aus einer fest zusammengeballten Mitte ragten. Ich durchtrennte das Gummiband mit den Zähnen und entwirrte die Stengel. Die Mädchen würden niemals verstehen, was die Dahlien ihnen sagen wollten (außerdem war die aufmunternde Botschaft eine zweischneidige Sache). Dennoch fühlte ich mich seltsam unbeschwert, als ich den langen Flur entlangging und unter jeder geschlossenen Zimmertür eine Blume durchschob.
    Die restlichen Blumen gab ich der jungen Frau, die die Nachtschicht machte. Sie stand am Küchenfenster und wartete auf ihre Ablösung.
    »Danke«, sagte sie verdattert, als ich ihr den Strauß reichte. Sie drehte die starren Stengel zwischen den Handflächen.
     
    Meredith erschien wie versprochen um zehn. Ich erwartete sie, einen Pappkarton auf dem Schoß, auf der Veranda. In den achtzehn Jahren hatte ich hauptsächlich Bücher angesammelt: Das Lexikon der Blumen und
Peterson Field Guide to Pacific States Wildflowers,
beides geschickt von Elizabeth, einen Monat nachdem ich ihr Haus verlassen hatte. Dazu Botaniklehrbücher aus Bibliotheken überall entlang der East Bay und dünne Taschenbücher mit viktorianischen Gedichten, stibitzt in stillen Buchläden. Die Bücher waren unter Stapeln gefalteter Kleider versteckt, eine Sammlung gefundener und gestohlener Sachen, von denen manche passten, viele auch nicht. Meredith würde mich zum Gathering House bringen, einem Übergangswohnheim im Bezirk Sunset. Ich stand auf der Warteliste, seit ich zehn war.
    »Alles Gute zum Geburtstag«, meinte Meredith, während ich meinen Karton auf dem Rücksitz ihres Dienstwagens verstaute. Ich antwortete nicht. Wir wussten beide, dass es vielleicht gar nicht mein wirklicher Geburtstag war. In meiner ersten Gerichtsakte wurde mein Alter mit schätzungsweise drei Wochen angegeben. Geburtsdatum und Geburtsort waren

Weitere Kostenlose Bücher