Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
Karton die Sammlung in meinem Zimmer zu erweitern. Ich
wollte
den Lavendel neben meinem Kopfkissen einpflanzen und, eingehüllt in seinen kühlen, trockenen Duft, einschlafen.
Meredith stand auf. »Nächste Woche komme ich wieder, und zwar wenn du überhaupt nicht damit rechnest. Und dann möchte ich einen dicken Stapel Bewerbungen in deinem Rucksack sehen«, fügte sie hinzu. An der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Es wird mir nicht leichtfallen, dich auf die Straße zu setzen, aber du solltest wissen, dass ich es tun werde.«
Ich glaubte nicht, dass es ein Problem für sie sein würde.
Ich ging in die Küche, öffnete den Gefrierschrank und kramte zwischen Frühlingsrollen und vom Gefrierbrand gezeichneten panierten Würstchen herum, bis ich hörte, dass die Vordertür ins Schloss fiel.
Meine letzten Wochen im Gathering House verbrachte ich damit, meinen Zimmergarten in den McKinley Square, einen kleinen städtischen Park auf dem Gipfel des Potrero Hill, zu verpflanzen. Ich hatte ihn entdeckt, als ich, nach Schildern mit der Aufschrift »Mitarbeiter gesucht« Ausschau haltend, durch die Straßen gepilgert und davon abgelenkt worden war, dass der Park eine wundervolle Mischung aus Sonne, Schatten, Einsamkeit und Geborgenheit bot. Potrero Hill war einer der wärmsten Stadtteile; der Park befand sich auf einem Gipfel, von dem aus man freie Sicht in alle Richtungen hatte. In der Mitte eines gepflegten viereckigen Rasenstücks ragte ein kleines Klettergerüst aus einem Sandkasten. Hinter dem Rasen wurde der Park bewaldet und steil und fiel in eine von Gebüsch überwucherte Böschung mit Blick auf das San Francisco General Hospital und eine Brauerei ab. Anstatt die Arbeitssuche fortzusetzen, brachte ich einen Karton nach dem anderen zu diesem abgelegenen Fleckchen Erde. Für jede Pflanze wählte ich ganz bewusst den richtigen Standort aus – Schattengewächse kamen unter hohe Bäume. Pflanzen, die Sonne brauchten, wurden ein paar Meter weiter bergab eingesetzt, wo es heller war.
Am Morgen meines Rauswurfs wachte ich vor Tagesanbruch auf. Mein Zimmer war leer, der Boden noch feucht und voller Flecke, wo die Milchkartons gestanden hatten. Ich hatte mich nicht bewusst für meine unmittelbar bevorstehende Obdachlosigkeit entschieden; dennoch stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich mich nicht fürchtete, als ich an dem Morgen, an dem ich auf der Straße landen würde, aufstand, um mich anzukleiden. Anstelle der erwarteten Wut oder Angst empfand ich eine bange Erwartung, ein ähnliches Gefühl wie während meiner Kindheit am Vorabend des Umzugs in wieder eine neue Adoptivfamilie. Nun, als Erwachsene, hatte ich nur noch geringe Ansprüche an die Zukunft. Ich wollte allein und von Blumen umgeben sein. Offenbar würde sich dieser Wunsch nun endlich erfüllen.
In meinem ausgeräumten Zimmer gab es nur noch drei Garnituren Kleidung, meinen Rucksack, eine Zahnbürste und die Bücher, die Elizabeth mir geschenkt hatte. Letzte Nacht im Bett hatte ich gelauscht, während meine Mitbewohnerinnen meine restlichen Sachen durchwühlten wie hungrige Tiere, die sich über einen gefallenen Artgenossen hermachen. Das Aufteilen der von gehetzten und weinenden Kindern zurückgelassenen Habe war in Heimen und betreuten Wohngemeinschaften ein alter Brauch, eine Tradition, die meine Hausgenossinnen offenbar auch als Volljährige aufrechterhielten.
Es war schon Jahre her – beinahe zehn –, dass ich mich zuletzt an einem solchen Beutezug beteiligt hatte. Doch ich erinnerte mich noch an meine Begeisterung, wenn ich auf etwas Essbares, etwas, das ich in der Schule für fünf Cent verkaufen konnte, oder etwas Geheimnisvolles und Persönliches stieß. In meiner Grundschulzeit fing ich an, diese kleinen vergessenen Gegenstände zu horten wie Schätze: ein silbernes Medaillon mit einem eingravierten M, ein Uhrarmband aus türkisfarbenem Schildkrötenlederimitat, ein Pillendöschen, etwa so groß wie ein Vierteldollar, das einen blutverkrusteten Backenzahn enthielt. Ich stopfte meine Funde in einen Wäschebeutel mit Reißverschluss, den ich in irgendeiner Waschküche gestohlen hatte. Als der Beutel prall und schwer wurde, drückten sich die Gegenstände durch die winzigen Maschen im Gewebe.
Eine Weile redete ich mir ein, dass ich diese Dinge für ihre rechtmäßigen Besitzerinnen aufbewahrte – nicht etwa, um sie ihnen zurückzugeben, sondern um mich dafür mit Lebensmitteln und Privilegien entlohnen zu lassen, falls wir
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